Schwäbische Zeitung (Biberach)
Zehn Punkte für Biberach
Ein Vortrag von Gunther Dahinten über die Bedeutung der Reichsstadt für Christoph Martin Wieland
BIBERACH (sz) -In einem Vortrag hat Gunther Dahinten auf Einladung der Wieland-Gesellschaft erläutert, welche Bedeutung die kleine Reichsstadt Biberach für den großen Dichter Wieland hatte.
Er nannte sie die zehn Gebote zum Verständnis des Dichters. Sein Vortrag sei „kein patriotisches Aufplustern“, sondern eine nüchterne Betrachtung darüber, wie in dem damaligen „Nest“mit gerade mal 4500 Einwohnern, dazu noch mit einem Anteil an Kindern von 40 Prozent, wie Wieland also einer der meistgelesenen Autoren des 18. Jahrhunderts geworden ist.
Der erste Punkt wäre die Frage, ob Wieland ein Urbiber sei; man müsse aber, mit Blick auf die väterlichen und mütterlichen Vorfahren und auf seine Geburtsstätte in Oberholzheim, feststellen, dass seine Wurzeln und seine Verortung eigentlich im Oberschwäbischen lagen. Im zweiten und dritten Punkt blickte Dahinten einerseits auf die gut situierte Familie, in der bereits der Vater die Bildung des kleinen Wieland weit über das übliche Maß hinaus vorantrieb, und andererseits auf die LateinSchule, in der ein engagierter Lehrer Doll die Weiterbildung des Überfliegers Wieland gefördert hat, sodass der ElfJährige bereits damals erklärte, ein Dichter werden zu wollen.
Viertens war es dann die Freundschaft mit Sophie Gutermann, spätere von La Roche, die dem 17-jährigen Wieland auf dem Verlobungsspaziergang zum Lindele ans Herz legte, seine poetischen Gedanken aufzuschreiben. Sophie begleitete mit ihrem aufgeklärten, liberalen Denken Wielands Werdegang sein Leben lang. „Ins praktische Leben“, wie es Wieland ausgedrückt hat, brachten ihn die nächsten beiden Punkte – die Affäre mit Christine Hogel, seiner Bibi, und die Erkenntnis, dass die schwäbischen Kleinbürger eine Ehe des evangelischen Kanzleiverwalters, Sohn des höchsten evangelischen Predigers in der Stadt, mit einem katholischen Mädchen von niedrigerem Stand überhaupt nicht tolerieren konnten; ja, dass er womöglich seine Bürgerrechte und seinen Lebensunterhalt verlieren würde.
Als siebten und achten Punkt zählte Dahinten die Jahre auf, die Wieland sommers in seinem Gartenhaus verbrachte, in dem er, quasi im Schoße der Natur, einige seiner wichtigsten Werke verfasst hat. Andererseits war der Dichter häufiger Gast auf Schloss Warthausen, wo er sich in einer gebildeten Gesellschaft wohlfühlte und auch Gelegenheit fand, seine Dichtungen vorzutragen, und wo er Zugang zu einer aufgeklärten Bibliothek hatte. Dort, so Dahinten,
sei Wieland ein Weltmann geworden. Neuntens hat ihm das in Biberach erlebte Simultaneum, das seit dem Westfälischen Frieden 1648 hier ausgeübt wurde – die Parität auch in den städtischen Ämtern – gezeigt, wie strittige politische Themen souverän bewältigt werden können.
Und der zehnte Punkt, warum Biberach – und nicht Weimar oder Oßmannstedt – der Ort ist, an dem Wieland seine Bedeutung errang: Hier hat er seine wichtigsten Werke geschrieben, 22 Shakespeare-Dramen übersetzt und im Komödienhaus das erste Mal ein Shakespeare-Stück in Deutsch aufgeführt. Gespielt wurde „Der Sturm“von Mitgliedern der Evangelischen Komödianten-Gesellschaft. Von dieser beim Publikum enthusiastisch aufgenommenen Aufführung ausgehend, hat es für die Shakespeare-Begeisterung bis heute in ganz Deutschland „grünes Licht gegeben“. Zusammenfassend stellte Dahinten fest, dass Biberach als Stadt sehr selbstbewusst auftreten könne, weil sie einen Dichter wie Christoph Martin Wieland hervorgebracht habe.