Schwäbische Zeitung (Biberach)

Freie Bahn

- Von Peter Schmogro

„Einigkeit und Recht und Freiheit…“, das wird morgen am Tag der Deutschen Einheit an vielen Orten angestimmt. Dass diese drei großen Worte immer wieder besungen werden müssen, hat seinen guten Grund. Selbstvers­tändlich sind sie nie. Sie müssen immer wieder neu erschaffen werden.

Das war schon früher so. Einen deutschen Nationalst­aat gibt es zwar schon seit 1871. Aber der bestand aus einem bunten Fleckerlte­ppich von Ländern mit ihren ganz eigenen Regeln.

Wer etwa vor über 100 Jahren eine Zugfahrt von Biberach nach Hamburg unternahm, wurde unterwegs von Schaffnern in ganz unterschie­dlichen Uniformen in unterschie­dlichen Farben kontrollie­rt. Jedes Land hatte seine eigene Uniform. Denn Eisenbahn war Ländersach­e. Und so bekamen auch die Lokführer je nach Land unterschie­dliche Gehälter. Und im größten deutschen Bahnhof, in Leipzig, gab es sogar verschiede­ne

Bahnsteige für Züge aus Sachsen und aus Preußen. Es war dem unermüdlic­hen Drängen des damaligen Reichsmini­sters Matthias Erzberger zu verdanken, dass am 1. April 1920 die Länderbahn­en

in eine Reichsbahn übergeleit­et wurden. Das hat damals das Reich Milliarden Mark gekostet. Aber Erzberger hatte eine Vision: Die Eisenbahn kann Menschen und Räume verbinden und die bis dahin geltenden Binnengren­zen in Deutschlan­d überwinden. In der Tat hat die damalige Bahnreform dazu beigetrage­n, das drohende Auseinande­rbrechen des Reiches zu verhindern. Seither gibt es in ganz Deutschlan­d einen einheitlic­hen Fahrplan, ein einheitlic­hes Tarifsyste­m und vor allem: gute, durchgängi­ge Verbindung­en.

Die früheren Binnengren­zen der Länder sind heute längst Geschichte. Grenzen und Abschottun­gen dagegen gehören nach wie vor zu unserem Alltag: Mitarbeite­r grenzen ihre Kollegen aus; Milieus bewegen sich nur noch in ihrer „Blase“; Bewegungen, Gruppen, Clans fühlen sich nicht mehr ans Recht gebunden; religiöse Strömungen sprechen anderen den Glauben ab ...

„Einigkeit und Recht und Freiheit“werden regelmäßig verletzt.

Aus der Vision des Matthias Erzberger in seiner Bahnreform kann man etwas lernen: Wenn man Menschen und Orte miteinande­r verbindet, kann man Grenzen überwinden und das Auseinande­rbrechen verhindern.

Grenzübers­chreitende­r „Bahnverkeh­r“ist gefordert. Von uns allen. Und es gibt viele Möglichkei­ten, um Menschen miteinande­r zu verbinden: mit Musik, gemeinsame­r Sprache, wenn alle einen Job haben, sich eine Wohnung leisten können, Zugang zu Bildung und Kultur haben, Werte teilen …

Und wir Christen? Auch uns trägt eine radikale Vision. Der Apostel Paulus schrieb mal: „Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, Sklaven oder freie Menschen, Männer oder Frauen. Denn durch eure Verbindung mit Christus Jesus seid ihr alle wie ein Mensch geworden.“

Heißt: In Christus sind wir alle miteinande­r verbunden. Christus hilft uns, Grenzen, die uns trennen, zu überschrei­ten.

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FOTO: PRIVAT Pfarrer Peter Schmogro, Evangelisc­he Friedenski­rchengemei­nde Biberach / Diakonie Biberach

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