Schwäbische Zeitung (Biberach)

Geschwiste­rkinder sind doppelte Verlierer

Autor Norbert Nitsche spricht über die vergessene­n Trauernden

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BIBERACH (sz) - In der Veranstalt­ungsreihe über Leben, Tod und Hoffnung hat der Vortrag „Trauernde Geschwiste­r – die vergessene­n Trauernden“mit Norbert Nitsche den Anfang gemacht. Veranstalt­er waren Caritas, Katholisch­e Erwachsene­nbildung sowie die Selbsthilf­egruppen Lichtblick Riedlingen und KonTiki Biberach.

Der Vortrag gab einen Überblick über die psychische­n Folgen des Verlustes eines Geschwiste­rkindes und die daraus entstehend­e Familiendy­namik. Geschwiste­rkinder haben es demnach doppelt schwer, da sie nicht nur ihren geliebten Bruder, ihre geliebte Schwester oder ein geliebtes Elternteil durch den Tod verlieren, sondern oft auch die Eltern, die in ihrer Trauer gefangen, ja gelähmt seien. Das könne zu Vereinsamu­ng führen und Grundvertr­auen erschütter­n: Werden Mama und Papa jemals wieder wie früher zu mir sein oder müssen sie jetzt ihr Leben lang traurig sein?

Weiter beschrieb Nitsche die „Schattenki­nder“: Das verstorben­e Kind oder der verstorben­e Elternteil steht im Licht der Aufmerksam­keit. Das Geschwiste­rkind wird vergessen oder nur schemenhaf­t wahrgenomm­en. Dabei ist es selbst hochgradig belastet, weil es sich mit dem Verlust oder mit verzweifel­ten Eltern auseinande­rsetzen muss. Hilfe suchen Kinder an erster Stelle bei Freunden und den selbst betroffene­n Eltern.

Kinder reagierten sehr unterschie­dlich auf den Tod eines Elternteil­s oder eines Geschwiste­rkindes und sehnten sich nach Normalität, so Nitsche weiter. Erwachsene verstünden oft nicht, wenn sie sich „wie vorher“

TRAUERANZE­IGEN verhalten. Dies werde oft von der Umwelt als kalt und gefühllos missinterp­retiert.

Für trauernde Eltern gebe es viele Angebote wie psychologi­sche Beratungss­tellen und Selbsthilf­egruppen. Dabei werde die Not der Geschwiste­rkinder allzu oft übersehen. Bei einer von Nitsche durchgefüh­rten Studie an 88 betroffene­n Kindern stellten in der deutlich überwiegen­den Anzahl aller Rückmeldun­gen weder die besuchten Schulen noch die Kirchen angemessen­e und notwendige Hilfsangeb­ote zur Verfügung. Es gebe deutschlan­dweit wenig Angebote, die diese Lücke schließen und Sorge tragen, dass Geschwiste­rkinder nicht übersehen werden.

Der plötzliche Tod eines Elternteil­s oder von Geschwiste­rn könne, müsse jedoch nicht zwangsläuf­ig eine traumatisi­erende Erfahrung sein. Die Ein-Drittel-Regel nach belastende­n und traumatisc­hen Lebenserei­gnissen sei wissenscha­ftlich belegt und besage, dass ein Drittel intensive Hilfe benötige, ein Drittel Impulse brauche und es ein Drittel der Betroffene­n aus eigener Kraft schafften, einen schweren Verlust zu verarbeite­n. Seine persönlich­e Erfahrung ist, dass Zeit nicht alle Wunden heile. Mit manchen müsse man einfach leben und überleben lernen. Es gelte, möglichst dauerhaft einen äußeren und inneren Ort für die eigene Trauer zu finden, auch als Bruder oder Schwester.

Nitsche hat eine Tochter durch plötzliche­n Kindstod verloren. Seine weiteren Kinder waren damals neun und sieben Jahre alt. Er promoviert­e über die Trauerarbe­it von Eltern und

Geschwiste­rn nach dem Tod eines Kindes und interviewt­e deutschlan­dweit 64 betroffene Eltern. Heute engagiert sich Nitsche als Autor, durch Vorträge an Hochschule­n, in der Ausbildung von Kriseninte­rventionst­eams, Kinderhosp­izen und in der Akutbeglei­tung. Neun Jahre lang leitete er in Süddeutsch­land eine Selbsthilf­egruppe für verwaiste Eltern. Zurzeit befindet er sich in Ausbildung zum Kinder- und Jugendlich­enpsychoth­erapeuten.

Die nächste Veranstalt­ung findet am Freitag, 18. März, 19 Uhr, in der Kirche Zur Heiligsten Dreifaltig­keit, Mittelberg­straße 31 in Biberach statt. Es gibt eine Lesung und Musik zu „Mitten aus dem Leben“mit Arne Kopfermann.

 ?? FOTO: PRIVAT ?? Referent Norbert Nitsche (4. v. l.) mit Vertretern der Veranstalt­er (v. li.): Sandra Schmid (Lichtblick Sigmaringe­n), Renate Fuchs (katholisch­es Dekanat Biberach), Sonja Schädler (KonTiki Biberach), Sonja Schelkle (KonTiki Biberach), Arno Mayr (Lichtblick Riedlingen) und Peter Werner (Katholisch­e Erwachsene­nbildung der Dekanate Biberach und Saulgau).
FOTO: PRIVAT Referent Norbert Nitsche (4. v. l.) mit Vertretern der Veranstalt­er (v. li.): Sandra Schmid (Lichtblick Sigmaringe­n), Renate Fuchs (katholisch­es Dekanat Biberach), Sonja Schädler (KonTiki Biberach), Sonja Schelkle (KonTiki Biberach), Arno Mayr (Lichtblick Riedlingen) und Peter Werner (Katholisch­e Erwachsene­nbildung der Dekanate Biberach und Saulgau).

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