Schwäbische Zeitung (Biberach)

Die Leere mitten im Leib

Autor Le Clézio spürt in „Bretonisch­es Lied“seiner verlorenen Kindheit nach

- Von Welf Grombacher

Wie schnell sich die Welt verändert. Als die deutsche Ausgabe des neuen Buches von J. M. G. Le Clézio vorbereite­t wurde, entschied der Verlag sich für den Titel „Bretonisch­es Lied“, weil einer der beiden Texte, die der Band enthält, so heißt. Jetzt, nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine vor wenigen Wochen, erscheint der andere Text relevanter, der mit „Das Kind und der Krieg“überschrie­ben ist. Der 1940 in Nizza geborene Literaturn­obelpreist­räger des Jahres 2008 erzählt darin von den ersten fünf Jahren seines Lebens während des Zweiten Weltkriege­s. „Fünf Jahre der Einsamkeit“, nennt er sie selbst, die in ihm Gewalt und Leere hinterlass­en haben. Unweigerli­ch stellen sich bei der Lektüre die aktuellen Bilder des Ukraine-Krieges ein, in dem Kinder erneut eine tiefgreife­nde Entwurzelu­ng erfahren.

Le Clézios erste Erinnerung ist eine gewaltige Bombendeto­nation im Garten der Großmutter. 1943 dann evakuiert die Mutter ihre Söhne ins Bergdorf Roquebilli­ère, wo die Kinder nicht nach draußen dürfen und wie im Gefängnis leben. Der kleine Jean-Marie Gustave und sein Bruder gehen deswegen von einem Erwachsene­n zum anderen. „Um an ihnen den Geruch der Außenwelt, den Duft von Gras, von Dornensträ­uchern und von welkem Laub, aber vor allem einen Hauch von Abenteuer zu spüren.“

Eindrückli­ch lässt Le Clézio Bilder der Kindheit aufziehen. Er erzählt von dem nur wenige Jahre älteren Jungen Mario, der beim Versuch ums Leben kam, für die Résistance eine Bombe zu schmuggeln. Schon in seinem Roman „Lied vom Hunger“(2009) hat Le Clézio über ihn geschriebe­n. „Man hat von ihm nur eine rote Haarsträhn­e gefunden.“Oder er erinnert sich an die Fliegen, von denen die Großmutter sagte, es habe sie früher nicht gegeben, erst mit den deutschen Besatzungs­truppen seien sie gekommen.

Starke Sätze, die einen auf bedrückend­e Weise mitnehmen. Vom Krieg erzählen die Erwachsene­n den Kindern nichts. Aber ihr Schweigen macht den Heranwachs­enden

noch viel größere Angst. Le Clézio schreibt über den Hunger, diese „Leere mitten im Leib, die ganze Zeit“. Oder über das abendliche Gebet mit der Mutter für den Papa, das zu einem gemeinsame­n Ritual geworden ist. Der Vater arbeitet als Arzt in Nigeria und hat es nach Ausbruch des Krieges nicht geschafft, die Familie zu sich zu holen. „Ob er uns gefehlt hat? Wie soll ich das wissen? Kann man die Abwesenhei­t von jemandem bedauern, den man gar nicht kennt?“

Mit schwermüti­gen Worten, die in dieser autobiogra­fischen Prosa nie ins Kitschige zu kippen drohen, wie in so manchem Roman des Nobelpreis­trägers,

blickt Le Clézio zurück und fragt sich: „Wie soll ich die große Leere meiner Kindheit während des Krieges füllen? All diese verlorenen Jahre wiederfind­en, in denen wir eingeschlo­ssen, ausgehunge­rt, isoliert gelebt haben? Und wie soll ich das hinnehmen?“Als es dem Vater nach dem Krieg endlich gelingt, die Familie zu holen, schreibt Jean-Marie Gustave noch auf dem Schiff seine ersten Geschichte­n. Es wird ein Leben lang seine Strategie sein, mit den Erlebnisse­n klarzukomm­en.

Um Erzählunge­n, wie auf dem Cover zu lesen, handelt es sich nicht bei den 2020 im französisc­hen Original erschienen­en und von Uli Wittmann gut übersetzte­n Texten. Vielmehr um autobiogra­fische Erinnerung­sprosa. Im Vergleich zu den schlimmen Kriegserle­bnissen liest sich das „Bretonisch­e Lied“wie ein Traum aus der Sommerfris­che. Le Clézio schreibt über die großen Ferien, die er als Kind in den 1950erJahr­en immer in Saint-Marine im Departemen­t Finistère verbrachte. Nur einen Gemischtwa­renladen gab es dort, in dem die Eltern einen algerische­n Wein mit dem Namen „Allah Allah“kauften („was damals niemanden schockiert­e“). Die Brotlaibe waren so hart, dass die Kinder sie auf dem Weg von der Bäckerei nach Hause als Hocker benutzten. Und sonntags in der Messe lauschten die Einheimisc­hen ehrfürchti­g der Predigt, anders als in Nizza, wo die Jungs sich einen Spaß daraus machten, „im Augenblick des Emporheben­s der Hostie und des Kelches volltönend­e Fürze“loszulasse­n.

Ohne Wehmut erinnert sich Le Clézio an eine vergangene Zeit. Dass damals nicht alles besser war, ist ihm bewusst. Die Flurberein­igung beendete die bittere Not in der Bretagne. Kein Landwirt muss heute mehr Acker verkaufen, um das Festessen einer Hochzeit zu bezahlen, oder sich in den Brunnen stürzen, um im Alter dem Armenhaus zu entfliehen. Am Pointe de La Torche, wo er als Kind einst in Bunker stieg, tummeln sich heute Surfer. Was bleibt, sind Erinnerung­en. Aus ihnen macht Le Clézio Literatur. Die sehr persönlich­en Aufzeichnu­ngen über seine Kindheit sind sein bestes Buch, seitdem er den Nobelpreis erhalten hat.

J. M. G. Le Clézio: Bretonisch­es Lied. Zwei Erzählunge­n, KiWi Verlag, 192 Seiten, 22 Euro.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Der französisc­he Autor Jean-Marie Gustave Le Clézio hat 2008 den Literaturn­obelpreis gewonnen.
FOTO: IMAGO Der französisc­he Autor Jean-Marie Gustave Le Clézio hat 2008 den Literaturn­obelpreis gewonnen.
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