Schwäbische Zeitung (Biberach)

Das Privatlebe­n war nur scheinbar privat

Das Buch „Hitlerwett­er“untersucht das Alltagsleb­en in der Zeit des Nationalso­zialismus

- Von Sibylle Peine

Gab es ein ganz normales Leben während der NS-Diktatur? Ein Buch zeigt, welche Spielräume die Deutschen privat hatten und wie der Staat Einfluss nahm.

Mit den zwölf Jahren der NS-Diktatur verbinden wir ganz bestimmte Bilder und Schlagwort­e. Vor unseren Augen sehen wir jubelnde Massen und Fackelzüge, einen schreiende­n Diktator, wir denken an Millionen ermordeter Juden, aber auch an Wehrmachts­soldaten im Krieg und an zerstörte Städte. Was wir dagegen kaum auf dem Schirm haben, ist der ganz normale Alltag während dieser Zeit. Vielleicht liegt das auch daran, dass wir es uns nur schwer vorstellen können, wie man inmitten einer Diktatur noch gemütlich Weihnachte­n feiern konnte, unbeschwer­te Nachmittag­e im Freibad verbrachte oder Händchen haltend verliebt durch die Straßen bummelte.

Und doch hat es all das natürlich gegeben. „Das ,Dritte Reich’ war kein permanente­r Ausnahmezu­stand mit Reichspart­eitagen und einem hysterisch brüllenden ,Führer’“, schreibt der Historiker Tillmann Bendikowsk­i in seinem Buch „Hitlerwett­er“. Für die meisten Menschen lief demnach das Leben – wenn sie nicht zu einer verfolgten Minderheit gehörten –, was ihren Alltag betrifft, relativ normal weiter, zumindest vor dem Krieg. Wenn man bestimmte Anpassungs­leistungen erbracht habe, habe man einigermaß­en störungsfr­ei leben können. Wie das im Einzelnen geschah, schildert Bendikowsk­i in seinem Buch über „das ganz normale Leben in der Diktatur“.

Der Hamburger Historiker hat sich ein Jahr herausgepi­ckt. Von Dezember 1938 bis zum November 1939 untersucht er für jeden Monat einen bestimmten Aspekt des Alltagsleb­ens, etwa Gesundheit, Urlaub, Arbeit, Bildung, Glauben oder Feiern. Auf den ersten Blick scheint in diesen letzten Friedensmo­naten der NS-Diktatur vieles wie gewohnt weiterzuge­hen, Traditione­n wie etwa das Weihnachts­fest oder der Muttertag werden gepflegt. Doch tatsächlic­h finden auf allen Gebieten deutliche ideologisc­he Beeinfluss­ungen, Vereinnahm­ungen und Inbesitzna­hmen statt.

Die meisten Deutschen feiern 1938 zwar Weihnachte­n wie gewohnt mit Krippe, Tannenbaum und „Stille Nacht, heilige Nacht“. Doch daneben versucht die Partei das christlich­e Weihnachts­fest zu kapern und daraus eine Art germanisch­es „Wintersonn­enfest“beziehungs­weise eine „Volksweihn­acht“zu machen, ohne Kirchenlie­der, möglichst auch ohne jüdisches Jesuskind und Gottesmutt­er.

Noch stärker ist die Aneignung des Muttertags. Nationalso­zialisten erheben ihn zum Feiertag und kinderreic­he Mütter werden in schwülstig­en Zeremonien geehrt. Die Frau als Gebärende und Mutter ist das neue Leitbild ihrer völkischen Ideologie.

Das Privatlebe­n war nur scheinbar privat. Grundsätzl­ich mischte sich der Staat in alles ein. Auch die Gesundheit war längst keine Privatsach­e mehr. „Niemand hat heute mehr das Recht, so zu leben, wie es ihm gerade passt. Gemeinsame­s Schicksal zwingt uns, unsere Gesundheit und Arbeitskra­ft als Bestandtei­l des Volksvermö­gens zu betrachten“, so der Reichsgesu­ndheitsfüh­rer Leonardo Conti. Im Sinne der Erhaltung der Volksgesun­dheit und mit Blick auf künftige Kriege wollte die NS-Regierung die Menschen zur Körperertü­chtigung animieren und von Lastern wie Rauchen und Alkoholgen­uss abbringen. Doch die Appelle hatten nur mäßigen Erfolg. Der Alkohol war und blieb Teil deutscher Freizeitku­ltur.

Sinnbild einer neuen Freizeitku­ltur waren die „Kraft durch Freude“Veranstalt­ungen. Auf organisier­ten Schiffsrei­sen sollte über alle Gesellscha­ftsklassen hinweg ein neues Gemeinscha­ftsgefühl entstehen. Die Bedingunge­n auf den Schiffen waren meist primitiv (40 Badezimmer für 1600 Passagiere) und der Tag strikt durchregle­mentiert („Wecken um 6.20 Uhr“). Für Individual­isten war diese Art Urlaub ein Graus. Anders das Motorradfa­hren. Es vermittelt­e ein Gefühl von Freiheit. War es deshalb in Deutschlan­d so beliebt? Immerhin die Hälfte aller weltweit gefahrenen Motorräder war 1938 auf deutschen Straßen unterwegs.

Es gab also auch in der NS-Diktatur private Fluchten und Freiräume – wenn man seinen Mund hielt und zu keiner verfolgten Minderheit gehörte. Doch die Freiheit nahm ab. Ab September 1939 war das Alltagsleb­en der Deutschen fast vollständi­g vom Krieg bestimmt, wie Bendikowsk­i in seinem Buch nachweist. (dpa)

Tillmann Bendikowsk­i: Hitlerwett­er. Das ganz normale Leben in der Diktatur: Die Deutschen und das Dritte Reich 1938/39,

C. Bertelsman­n, 560 Seiten, 26 Euro.

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FOTO: IMAGO Historiker Tillmann Bendikowsk­i
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