Schwäbische Zeitung (Biberach)
Behauptung ohne Beleg
Friedrich Merz hatte im Jahr 2013 wohl Besseres zu tun, als sich um Wörter oder Unwörter des Jahres zu kümmern. Sonst hätte er mit Sicherheit mitbekommen, dass der Begriff „Sozialtourismus“, bezogen auf Kriegsflüchtlinge, problematisch ist. Um es ironiefrei zu formulieren: Wer sich an den Besuch des CDU-Vorsitzenden in der zerstörten ukrainischen Stadt Irpin erinnert, wer sich in Gedanken ruft, dass Merz vor wenigen Monaten Bundeskanzler Olaf Scholz mangelnde Unterstützung der Ukraine vorgeworfen hat, ist einigermaßen fassungslos über seine Aussagen. Auch seine nachgereichte Entschuldigung lässt ihn kaum besser aussehen. Sie kam zu spät – und wahrscheinlich auf Druck seiner Berater.
Jetzt ist es ja nicht so, dass Missstände, auch wenn es um Kriegsflüchtlinge geht, nicht benannt werden sollten. Doch mit seiner Wortwahl hat Merz Hunderttausende geflüchtete Menschen in Deutschland unter Generalverdacht gestellt. Er wirft ihnen vor, die Hilfsbereitschaft auszunutzen. Zahlen, die seinen Vorwurf untermauern, präsentiert er nicht. Das kann er auch nicht, weil es die so nicht gibt. Wenn es Merz nicht gefällt, dass den ukrainischen Kriegsflüchtlingen mehr Leistungen und Freiheiten als anderen Geflüchteten zustehen, dann sollte er die Bundesregierung angreifen – und nicht die Menschen. Abgesehen davon wäre es ohnehin politisch klüger, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu rühmen anstatt Probleme zu benennen, die sich so nicht belegen lassen.
Seiner Partei hat Merz einen Bärendienst erwiesen. Da müht sich die CDU redlich, ein neues, moderneres Bild von sich zu zeichnen – und der Chef greift derweil auf ein Wort zurück, das schon vor Jahren durchfiel. Das scheint all jenen recht zu geben, die daran Zweifel haben, ob Merz wirklich so progressiv ist, wie er glauben machen will. Bitter sind solche Patzer derzeit vor allem für die CDU in Niedersachsen, die vor einer schwierigen Landtagswahl steht. Herausforderer Bernd Althusmann bräuchte Rückenwind aus Berlin – und keinen vom Parteichef entfachten Sturm der Entrüstung.
c.kling@schwaebische.de