Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Schattenseite des Sports
Fallstudie legt großes Problem mit sexualisierter Gewalt im Sport offen
ULM - Opfer sexueller Gewalt im Sport leiden oft jahrelang, die Aufdeckung der Fälle wird durch Machtgefälle zwischen Soprtlern und Trainern oder Funktionären erschwert., Das sind zentrale Ergebnisse einer Studie der Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Diese hat am Dienstag die nach eigenen Angaben erste große Auswertung von Berichten Betroffener vorgelegt.
Was hat die Studie untersucht?
In der Studie, an der Mitarbeiter der Universität Ulm beteligt waren, wurden schriftliche Berichte und vertraulich geführte Gespräche mit 72 Betroffenen sexueller Gewalt analysiert. Dabei ging es um sexualisierte Gewalt, die Kinder und Jugendliche im Sport erlebt haben, wie etwa in Form von verbalen Belästigungen, Textnachrichten mit sexuellen Inhalten, Berührungen bei Hilfestellungen, exhibitionistische Handlungen bei Umkleide- und Duschsituationen bis hin zu Vergewaltigungen. Gerade letzteres wurde in den Berichten am häufigsten thematisiert.
Welche Rolle spielen Vereine?
Rund 80 Prozent der Berichte beziehen sich auf den organisierten Sport in Vereinen und Verbänden, also die deutliche Mehrheit. Fälle von sexualisierter Gewalt wurden aber auch im Sportunterricht erlebt. Rund 40 Prozent der Betroffenen waren zum Zeitpunkt der Gewalterfahrung im Bereich des Leistungssports aktiv und nahmen an Wettkämpfen teil. Am häufigsten war von Turnen und Fußball die Rede, also die Sportarten, die in Deutschland die meisten Mitglieder haben und häufig von Kindern und Jugendlichen ausgeübt werden.
Was sagt die Studie über die Täter aus?
In fast allen Fällen ging die sexualisierte Gewalt von Männern aus, meist Personen, die sich in machtvollen Positionen befinden, also Trainer oder Betreuer. „Nach außen hin treten die Tatpersonen nett und charmant auf und machen sich durch ihre Expertise und ihr Engagement für den Verein unentbehrlich“, berichtet Professorin Bettina Rulofs, leitende Autorin der Studie.
Wer wurde Opfer sexueller Gewalt?
In den meisten Fällen waren das Mädchen und junge Frauen. Ein Viertel der Betroffenen ist männlich.
Was den Großteil der Opfer eint: Viele waren aufgrund ihrer Lebensumstände besonders vulnerabel. „Diese Kinder waren besonders bedürftig nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, die sie zu Hause nicht erfuhren. Das wurde von den Tätern offenbar gezielt ausgenutzt“, so Bettina Rulofs. Die meisten Betroffenen erlebten sexualisierte Gewalt im Sport dabei nicht nur einmal, sondern regelmäßig.
Was haben Betroffene erlebt?
Viele der weiblichen Betroffenen haben sich in ihrem Verein durch das Verhalten der männlichen Akteure grundsätzlich abgewertet gefühlt. Eine Rolle spielte vor allem die Macht der Trainer, was Selektion und Sanktionen angeht. Wer sich unterordnet und Disziplin an den Tag legt, so die Annahme der Opfer, hat
Aussicht auf Erfolg. So hielten sie viel aus: hartes Training, Beschimpfungen bis hin zu körperlicher und emotionaler Gewalt. Wer als Opfer dann auch privilegiert wird, will sich seine Chancen erhalten – und geht mit den Erfahrungen nicht an die Öffentlichkeit. So fühlen sich Opfer meist auch noch mitschuldig.
Einige Übergriffe wurden dazu sehr wohl vom Umfeld wahrgenommen. Dass aber niemand einschritt, gab Opfern das Gefühl, dass die erfahrene Gewalt normal sein muss. „Vereine verschlossen lieber die Augen, als die wenigen engagierten Ehrenamtlichen nicht zu verlieren“, berichtet Bettina Rulofs. Das Wahren des guten Images schien Vorrang zu haben, was Betroffene erneut traumatisierte.
Welche Folgen hatten die Erfahrungen auf die Betroffenen?
Lebenslange Belastungen, gesundheitliche Probleme und Einschränkungen. Auch die sportliche Entwicklung litt darunter, viele konnten sich danach nicht weiter entfalten – und gingen letztendlich als Sporttalente verloren.
Was bedeutet das für den Vereinssport?
„Die Erfahrung von sexualisierter Gewalt im Sport steht im deutlichen Widerspruch zu dessen eigentlichen Versprechen, nämlich Gesundheit, Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und sportlicher Leistungsentwicklung“, betont Professor Keupp von der Kommission. Betroffene sehen ihr Team oder ihren Verein als zweite Familie an. Vor allem im ländlichen Raum ist der Sportverein unentbehrlicher Teil des Alltags und der eigenen Identität, vor allem wenn Familie und Freunde ebenfalls mit eingebunden sind. Ein derart geschlossenes System gelte es deshalb umso mehr zu überprüfen – und Betroffenen nötige Unterstützung zuzusichern.
Was können Vereine aus den Ergebnissen der Studie lernen?
Betroffene fordern: Möglichen Tätern erst gar nicht die Gelegenheit bieten, Trainer nur in Anwesenheit eines weiteren Erwachsenen mit Kindern trainieren zu lassen, auffällig gewordenen Trainern ihre Lizenz entziehen, Einblicke und Supervision von außen sowie ein vertrauensvoller Ansprechpartner unabhängig vom Verein. „Sportorganisationen müssen ein Interesse daran haben, zu erfahren, was in ihrer Einrichtung in der Vergangenheit geschehen ist. Darum braucht es ein gesetzlich verankertes Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung, das gleichzeitig Institutionen dazu verpflichtet“, sagte Professor Heiner Keupp.
Was sagt der Landessportbund?
„Das Thema ist für uns nicht neu, wir beschäftigen uns schon länger damit“, sagt Thomas Müller, Pressesprecher des Württembergischen Landessportbunds. Mit verschiedenen Angeboten wolle man die Prävention in den einzelnen Vereinen vorantreiben. Hier habe sich in den vergangenen Jahren schon einiges getan. „Wichtig ist uns, Hilfestellung zu geben, damit die Vereine Leitlinien zur Prävention erstellen können und wissen, wie sie in solchen Fällen reagieren sollten“, so Müller. Bei 5700 Mitgliedsvereinen sei es jedoch schwierig, überall gleichwertige Präsenz zu bieten.