Schwäbische Zeitung (Biberach)
Lachen und Weinen vor dem Kriegskommissariat
Moskaus Bürger haben Putins „Spezialoperation“sieben Monate erfolgreich verdrängt – Die Teilmobilmachung ändert dies nun dramatisch
MOSKAU - Die Männer vor dem Kriegskommissariat stehen in kleinen Gruppen herum, warten. Drei Hünen unterhalten sich leise, sie tragen dunkelgraue Sportjacken und Trainingshosen, auch ihre Blicke wirken dunkelgrau. Was sie von der Mobilmachung halten? „Was sollen wir davon halten? Das sind meine zwei Söhne, ich bin ihr Vater“, sagt der Älteste. Ob es richtig sei, in der Ukraine zu kämpfen? „Wenn man einberufen wird, muss man kämpfen“, sagt einer der Söhne. „Das ist eine Pflicht“, erklärt sein Vater.
Das Kriegskommissariat liegt an der Lobatschewskaja im Moskauer Stadtteil Ramenki. Ein weißblauer Klinkerbau mit zwei Etagen, der sich hinter Plattenbautürmen duckt. Vor den geöffneten Pforten des grauen Gitterzauns parken Streifenwagen, auch eine Ambulanz. Ein halbes Dutzend Einsatzpolizisten und MPSchützen in schwarzen Schutzwesten beobachten die Nochzivilisten und ihre Frauen, darunter eine ganze Delegation – Gattin, Mutter und Großmutter. Seit acht Uhr morgens haben sich im Kriegskommissariat Ramenki weit über 100 Männer mit einem Gestellungsbefehl versammelt. Sie stehen Schlange vor Diensträumen, wo ihre Personalien aufgenommen werden.
Seit Wladimir Putin vergangenen Mittwoch die Teilmobilmachung ausgerufen hat, herrscht in den 1234 Kriegskommissariaten, die Russland laut dem Portal nagrazhdanke.ru hat, ein sonderbarer Hochbetrieb, unfreiwillig, voll Ratlosigkeit und unterdrückter Angst. Es ist die erste Mobilmachung seit Juni 1941, als die Sowjetunion nach Hitlers Überfall in acht Tagen über 5,3 Millionen Wehrpflichtige aufbot. Diesmal spricht Verteidigungsminister Sergei Schoigu von 300 000 Mann, Das Oppositionsportal meduza.io unterstellte am Freitag ein Plansoll von 1,2 Millionen, Kremlsprecher Dmitri Peskow dementierte. Über ganz Russland schwebt Ungewissheit.
Auch über Moskau. Es gilt seit Jahrzehnten als Hauptstadt der Drückeberger, die sich mit gekauften Arztattesten oder Immatrikulationen vor dem Wehrdienst drückten. Auch jetzt sollen laut meduza.io nur 16 000 Bürger der Stadt, in der fast
ein Zehntel der Gesamtbevölkerung Russlands lebt, unter die Fahne.
Der Kreml hat es den russischen Regionalverwaltungen überlassen, seine Mobilmachung zu verwirklichen. Auch die Moskauer Behörden arbeiten fieberhaft, Gestellungsbefehle schlagen überall ein. „Zwei Kinder aus der sechsten Klasse kamen weinend zur Schule“, erzählt Maxim, (Name von der Redaktion geändert), Lehrer einer teuren Privatschule. „Ihre Väter sind eingezogen worden, obwohl es reiche Leute sind.“
Michail arbeitet als Eventproducer, Anatoli als Manager einer Elektrowaren-Kette. Beide warten vor dem Kriegskommissariat noch auf ein Einzelgespräch, dort werde sich entscheiden, ob sie wirklich eingezogen werden. Wollen sie an die Front? „Für Politik kämpfen? Nein!“, antwortet Michail. „Für Russland ja. Aber nicht, bevor der Feind bei uns eingefallen ist!“Ein Krieg, der sich „Kriegsspezialoperation“nennt, sei reine Politik. Anatoli nickt.
Zwei sportliche Endzwanziger, kinderlos, aber verheiratet, sie haben ihren Frauen und Eltern noch nichts
erzählt. Die seien schon nervös genug, sagt Michail. Und wenn sie heute eingezogen werden? „Dann packen wir eben unsere Sachen und gehen hin“, Michail zuckt die Achseln. Und Anatoli rettet sich in jungenhaftes Lachen: „Aber ich will diesmal einen Kamaz fahren.“Beide haben als Lkw-Fahrer bei den Transporttruppen gedient, besitzen also beste Chancen, in der Ukraine Kamaz-Laster zu fahren. Aber das wäre ein fragwürdiges Vergnügen. Artillerie und Stoßtrupps der Ukrainer nehmen mit Vorliebe russische Lastwagenkolonnen aufs Korn.
Russland macht mobil, aber ohne Hurra. Wie Michail und Anatoli folgen jetzt Tausende der Einberufung zu einem Feldzug, mit dem sie eigentlich nichts zu tun haben wollen. Tausende ihrer Altersgenossen fliehen, vor den Grenzübergängen von Finnland bis zur Mongolei standen und stehen kilometerlange Staus. Sieben Monate hat das ganze Land die „Kriegsspezialoperation“erfolgreich verdrängt. Jetzt steht sie plötzlich als blutiges Muss auch vor Moskau. „Die gesamte Belegschaft hatte sich versammelt“, erzählt die Managerin einer Moskauer Baufirma über den Tag nach Putins Mobilmachung. „Alle stritten, manche weinten. Die einen versprachen einen raschen Sieg in der Ukraine, die anderen riefen, man solle ihre Männer in Frieden lassen. Unsere Mitarbeiter teilen sich jetzt in zwei Lager.“Der Privatschullehrer Maxim hat das Gleiche erlebt: „Die meisten Kollegen waren so geschockt wie ich. Aber dann gab es Streit. Einige, der Sport- und der IT-Lehrer, erklärten, wir müssten den ukrainischen Nazismus bekämpfen, bevor er uns infiziert.“
Russland droht sich zu spalten wie die westsibirische Leserschaft des patriotisch-kommunistischen Telegram-Kanals Milij Tomsk: Bei einer Umfrage dort erklärten von 873 Teilnehmern 61 Prozent, sie seien bereit, Putins Mobilmachung zu folgen, 39 Prozent aber wollen sich vor den Kriegskommissaren verbergen – den drohenden Gefängnisstrafen zum Trotz. In Moskau veranstaltete Putins Volksfront vergangenen Freitag ein Massenkonzert zur Unterstützung der Spezialoperation, vor allem
Frauen demonstrieren aber gegen die Mobilmachung. Bei den landesweiten Protesten gab es mehr als 1000 Festnahmen. Russland scheint zum ersten Mal seit Beginn der Kämpfe in der Ukraine zu leiden.
Auf dem Hof vor dem Kriegskommissariat in Ramenki streicht ein zentralasiatischer Gastarbeiter die Bordsteine mit weißer Farbe. Er macht ein neutrales Gesicht. Eine schlanke Frau in einer grauen Flanelljacke eilt aus dem Gebäude auf die Straße, sie hält eine Klarsichthülle mit Papieren in der Hand und das Handy am Ohr. Sie weint.
„Mein Sohn ist nicht in der Stadt“, sagt die Frau, Anfang 40, schluckt tapfer die Tränen herunter. „Er ist Tennisspieler, hat gerade ein Turnier.“20 Jahre sei er jetzt alt, studiere noch. „Sie wollen ihn trotzdem einziehen.“Dabei hatte Verteidigungsminister Schoigu im Staatsfernsehen versichert, die Einberufung von Hochschülern stehe nicht zur Debatte. Die Frau bleibt stehen. „Ich will auf keinen Fall, dass er in den Krieg zieht. Aber was kann ich dagegen tun?“Sie fängt wieder an zu weinen.