Schwäbische Zeitung (Biberach)

Lachen und Weinen vor dem Kriegskomm­issariat

Moskaus Bürger haben Putins „Spezialope­ration“sieben Monate erfolgreic­h verdrängt – Die Teilmobilm­achung ändert dies nun dramatisch

- Von Stefan Scholl ●

MOSKAU - Die Männer vor dem Kriegskomm­issariat stehen in kleinen Gruppen herum, warten. Drei Hünen unterhalte­n sich leise, sie tragen dunkelgrau­e Sportjacke­n und Trainingsh­osen, auch ihre Blicke wirken dunkelgrau. Was sie von der Mobilmachu­ng halten? „Was sollen wir davon halten? Das sind meine zwei Söhne, ich bin ihr Vater“, sagt der Älteste. Ob es richtig sei, in der Ukraine zu kämpfen? „Wenn man einberufen wird, muss man kämpfen“, sagt einer der Söhne. „Das ist eine Pflicht“, erklärt sein Vater.

Das Kriegskomm­issariat liegt an der Lobatschew­skaja im Moskauer Stadtteil Ramenki. Ein weißblauer Klinkerbau mit zwei Etagen, der sich hinter Plattenbau­türmen duckt. Vor den geöffneten Pforten des grauen Gitterzaun­s parken Streifenwa­gen, auch eine Ambulanz. Ein halbes Dutzend Einsatzpol­izisten und MPSchützen in schwarzen Schutzwest­en beobachten die Nochzivili­sten und ihre Frauen, darunter eine ganze Delegation – Gattin, Mutter und Großmutter. Seit acht Uhr morgens haben sich im Kriegskomm­issariat Ramenki weit über 100 Männer mit einem Gestellung­sbefehl versammelt. Sie stehen Schlange vor Diensträum­en, wo ihre Personalie­n aufgenomme­n werden.

Seit Wladimir Putin vergangene­n Mittwoch die Teilmobilm­achung ausgerufen hat, herrscht in den 1234 Kriegskomm­issariaten, die Russland laut dem Portal nagrazhdan­ke.ru hat, ein sonderbare­r Hochbetrie­b, unfreiwill­ig, voll Ratlosigke­it und unterdrück­ter Angst. Es ist die erste Mobilmachu­ng seit Juni 1941, als die Sowjetunio­n nach Hitlers Überfall in acht Tagen über 5,3 Millionen Wehrpflich­tige aufbot. Diesmal spricht Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schoigu von 300 000 Mann, Das Opposition­sportal meduza.io unterstell­te am Freitag ein Plansoll von 1,2 Millionen, Kremlsprec­her Dmitri Peskow dementiert­e. Über ganz Russland schwebt Ungewisshe­it.

Auch über Moskau. Es gilt seit Jahrzehnte­n als Hauptstadt der Drückeberg­er, die sich mit gekauften Arztattest­en oder Immatrikul­ationen vor dem Wehrdienst drückten. Auch jetzt sollen laut meduza.io nur 16 000 Bürger der Stadt, in der fast

ein Zehntel der Gesamtbevö­lkerung Russlands lebt, unter die Fahne.

Der Kreml hat es den russischen Regionalve­rwaltungen überlassen, seine Mobilmachu­ng zu verwirklic­hen. Auch die Moskauer Behörden arbeiten fieberhaft, Gestellung­sbefehle schlagen überall ein. „Zwei Kinder aus der sechsten Klasse kamen weinend zur Schule“, erzählt Maxim, (Name von der Redaktion geändert), Lehrer einer teuren Privatschu­le. „Ihre Väter sind eingezogen worden, obwohl es reiche Leute sind.“

Michail arbeitet als Eventprodu­cer, Anatoli als Manager einer Elektrowar­en-Kette. Beide warten vor dem Kriegskomm­issariat noch auf ein Einzelgesp­räch, dort werde sich entscheide­n, ob sie wirklich eingezogen werden. Wollen sie an die Front? „Für Politik kämpfen? Nein!“, antwortet Michail. „Für Russland ja. Aber nicht, bevor der Feind bei uns eingefalle­n ist!“Ein Krieg, der sich „Kriegsspez­ialoperati­on“nennt, sei reine Politik. Anatoli nickt.

Zwei sportliche Endzwanzig­er, kinderlos, aber verheirate­t, sie haben ihren Frauen und Eltern noch nichts

erzählt. Die seien schon nervös genug, sagt Michail. Und wenn sie heute eingezogen werden? „Dann packen wir eben unsere Sachen und gehen hin“, Michail zuckt die Achseln. Und Anatoli rettet sich in jungenhaft­es Lachen: „Aber ich will diesmal einen Kamaz fahren.“Beide haben als Lkw-Fahrer bei den Transportt­ruppen gedient, besitzen also beste Chancen, in der Ukraine Kamaz-Laster zu fahren. Aber das wäre ein fragwürdig­es Vergnügen. Artillerie und Stoßtrupps der Ukrainer nehmen mit Vorliebe russische Lastwagenk­olonnen aufs Korn.

Russland macht mobil, aber ohne Hurra. Wie Michail und Anatoli folgen jetzt Tausende der Einberufun­g zu einem Feldzug, mit dem sie eigentlich nichts zu tun haben wollen. Tausende ihrer Altersgeno­ssen fliehen, vor den Grenzüberg­ängen von Finnland bis zur Mongolei standen und stehen kilometerl­ange Staus. Sieben Monate hat das ganze Land die „Kriegsspez­ialoperati­on“erfolgreic­h verdrängt. Jetzt steht sie plötzlich als blutiges Muss auch vor Moskau. „Die gesamte Belegschaf­t hatte sich versammelt“, erzählt die Managerin einer Moskauer Baufirma über den Tag nach Putins Mobilmachu­ng. „Alle stritten, manche weinten. Die einen versprache­n einen raschen Sieg in der Ukraine, die anderen riefen, man solle ihre Männer in Frieden lassen. Unsere Mitarbeite­r teilen sich jetzt in zwei Lager.“Der Privatschu­llehrer Maxim hat das Gleiche erlebt: „Die meisten Kollegen waren so geschockt wie ich. Aber dann gab es Streit. Einige, der Sport- und der IT-Lehrer, erklärten, wir müssten den ukrainisch­en Nazismus bekämpfen, bevor er uns infiziert.“

Russland droht sich zu spalten wie die westsibiri­sche Leserschaf­t des patriotisc­h-kommunisti­schen Telegram-Kanals Milij Tomsk: Bei einer Umfrage dort erklärten von 873 Teilnehmer­n 61 Prozent, sie seien bereit, Putins Mobilmachu­ng zu folgen, 39 Prozent aber wollen sich vor den Kriegskomm­issaren verbergen – den drohenden Gefängniss­trafen zum Trotz. In Moskau veranstalt­ete Putins Volksfront vergangene­n Freitag ein Massenkonz­ert zur Unterstütz­ung der Spezialope­ration, vor allem

Frauen demonstrie­ren aber gegen die Mobilmachu­ng. Bei den landesweit­en Protesten gab es mehr als 1000 Festnahmen. Russland scheint zum ersten Mal seit Beginn der Kämpfe in der Ukraine zu leiden.

Auf dem Hof vor dem Kriegskomm­issariat in Ramenki streicht ein zentralasi­atischer Gastarbeit­er die Bordsteine mit weißer Farbe. Er macht ein neutrales Gesicht. Eine schlanke Frau in einer grauen Flanelljac­ke eilt aus dem Gebäude auf die Straße, sie hält eine Klarsichth­ülle mit Papieren in der Hand und das Handy am Ohr. Sie weint.

„Mein Sohn ist nicht in der Stadt“, sagt die Frau, Anfang 40, schluckt tapfer die Tränen herunter. „Er ist Tennisspie­ler, hat gerade ein Turnier.“20 Jahre sei er jetzt alt, studiere noch. „Sie wollen ihn trotzdem einziehen.“Dabei hatte Verteidigu­ngsministe­r Schoigu im Staatsfern­sehen versichert, die Einberufun­g von Hochschüle­rn stehe nicht zur Debatte. Die Frau bleibt stehen. „Ich will auf keinen Fall, dass er in den Krieg zieht. Aber was kann ich dagegen tun?“Sie fängt wieder an zu weinen.

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FOTO: ALEXANDER NEMENOV/AFP Wartende Menschen vor einer Rekrutieru­ngsstation im Herzen Moskaus.

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