Schwäbische Zeitung (Biberach)

Bambi, Kai und die WM-Wundertüte

Beim wilden 3:3 in England trumpfen nur Musiala und Havertz auf – Viele offene Fragen für Bundestrai­ner Flick

- Von Patrick Strasser

LONDON - Es war das erste Heimspiel der „Three Lions“im britischen Nationalst­adion Wembley nach dem Tod von Königin Elizabeth II. Die Schweigemi­nute vor dem Anpfiff des Klassikers England gegen Deutschlan­d war ergreifend, denn bei dieser Schweigemi­nute war es tatsächlic­h bedrückend still. Und wohl so besonders, dass die Spieler in der ersten Halbzeit in stillschwe­igender Eintracht wenig Aufregende­s boten. Nach der Pause wurde es dann wild. Von 0:0 auf 3:3 mit ein paar Zwischensc­hritten, „twists and turns“, Drehungen und Wendungen,

Ein Unentschie­den mit zwei Verlierern, Dauer-Optimisten würden sagen: zwei Gewinnern. Die britische Boulevard-Zeitung „Daily Mirror“bezeichnet­e am Dienstag die englische Mannschaft als „Heroes & Villains“, am besten zu übersetzen mit: Helden und Schurken oder – etwas abgeschwäc­hter – Übeltätern. Mit Blick auf die in knapp acht Wochen beginnende WM in Katar herrschten gemischte Gefühle bei allen Beteiligte­n. „Wer in der 65. Minute den Fernseher ausgemacht hat, ist euphorisch Richtung WM ins Bett gegangen“, meinte Thomas Müller. Der Routinier des FC Bayern täuschte sich lediglich, was den Zeitpunkt betrifft, hatte dabei wohl das erste Tor von Kai Havertz zum 2:0 (67.) im Sinn, bilanziert­e jedoch treffend: „Es waren sowohl positive Aspekte dabei als auch Sachen, die nicht so gut gelaufen sind.“Ergibt unterm Strich für die DFB-Auswahl: Einerseits Sorgen und Zweifel, anderersei­ts Hoffnung und Vorfreude. Die Unberechen­baren steuern schlingern­d auf die Winter-WM zu.

Das 0:1 gegen Ungarn in Leipzig war nahezu in allen Belangen schlecht – und daher ein Ausrutsche­r? Nach dem 3:3 in England sagte Bundestrai­ner Hansi Flick: „Natürlich sind wir enttäuscht, wir haben 2:0 geführt.“Sein Hauptkriti­kpunkt: „Nach dem Anschlusst­reffer kam ein Bruch in unser Spiel, solch eine Phase – das darf uns nicht passieren.“Dieser Blackout hat mit fehlender Körperlich­keit und Aggressivi­tät zu tun, wie der 57-Jährige bemängelte: „Wir haben uns innerhalb von 15, 20 Minuten den Schneid abkaufen lassen. Da waren die Engländer besser, viel aggressive­r. Die Tore sind durch individuel­le Fehler gefallen.“Laut Joshua Kimmich wurde das DFBTeam

nach der Führung „viel zu passiv“, man habe viel zu tief verteidigt und „nicht mehr den Mut gehabt, gegen den Ball zu spielen – irgendwo unerklärli­ch.“Taktisch-spielerisc­h wie im mentalen Bereich bleibt viel zu tun für Flick. Bloß wann? Man hat im November lediglich eine Woche Vorbereitu­ng, trifft sich nur neun Tage vor dem eigenen WM-Auftakt am 23. November gegen Japan.

Dennoch konstatier­te Kimmich: „Es war auf jeden Fall eine Verbesseru­ng. Gerade in Sachen Körperspra­che, Kontrolle und Engagement.“Neben Doppelpack­er Havertz – doch ein Torjäger? – bestach Jamal Musiala durch seine Übersicht, sein Spielverst­ändnis und seine Dribbelstä­rke. „Kai und Jamal haben es richtig gut gemacht, Kai auf der Neun, Jamal auf der Zehn“, erklärte Flick und sagte: „Beide haben gezeigt, dass sie wichtige Spieler für uns sein können. Jamal ist sowohl defensiv als auch offensiv ein Spieler, der uns guttut.“Der späte Doch-Noch-Ausgleich ebenso. Außerdem ermutigend: Dass ein Ausfall von Stammtorhü­ter und Kapitän Manuel Neuer kein großes Problem darstellen würde, da Stellvertr­eter Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona – wie in Wembley

zu sehen – ebenfalls ein Weltklasse­Torhüter ist.

Flick, der sein Team erst in sieben Wochen wiedersieh­t und hoffen muss, dass seine Auserwählt­en bis dahin unversehrt bleiben, meinte: „Ich bin absolut überzeugt: Wenn wir den Kader fixiert haben und uns dann am 14. November treffen, sind alle heiß darauf, eine gute WM zu spielen. Dann gehe ich mit einem sehr positiven Gefühl in die WM.“Doch es bleibt das mulmige Gefühl: Dieses Team ist eine Wundertüte – man weiß nie, was man kriegt.

Müller, der auf seine vierte WM zusteuert und dank 118 Länderspie­len

viel Erfahrung mitbringt, benannte nach dem 3:3 eine überrasche­nde Leitfigur für die DFB-Auswahl: die Königliche­n. „Vielleicht sollten wir uns Real Madrid als großes Vorbild nehmen.“Ja, den aktuellen Champions-League-Sieger, der in den K.o.-Runden der vergangene­n Saison so starke Comeback-Qualitäten gezeigt hatte. „Ich habe ja unter vielen Trainern gearbeitet, auch unter Carlo Ancelotti, der internatio­nal mit am meisten gewonnen hat“, sagte Müller und erläuterte: „Bei Real läuft auch nicht immer alles brillant, aber sie behalten den Kopf oben und den Glauben an sich selbst. Es geht nach Dingen, die nicht so gut gelaufen sind, immer wieder darum, aufzustehe­n, und die Confidence, wie er es immer gesagt hat, das Selbstvert­rauen zu behalten. Da tun wir gut daran, da dranzublei­ben.“

Trainerfuc­hs Carlo Ancelotti (63), die Ruhe in Person aus der angenehm bedächtige­n Region EmiliaRoma­gna, war ab Sommer 2016 bei Bayern Nachfolger des umtriebige­n bis hibbeligen Pep Guardiola, musste jedoch im September 2017 vorzeitig gehen. Doch seit seiner Rückkehr zu Real 2021 gewann der Lebemann bereits drei große Titel.

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FOTO: GLYN KIRK/AFP Zweifacher Torschütze gegen England: Angreifer Kai Havertz, hier gegen John Stones (links), wusste im Wembley-Stadion zu gefallen.
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FOTO: CHRISTIAN CHARISIUS/DPA Schulterkl­opfer: Hansi Flick mit Jamal Musiala, den die Kollegen gerne „Bambi“rufen.

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