Schwäbische Zeitung (Biberach)

Expedition ins Reich der wilden Kinder

Das Interesse an Waldkinder­gärten nimmt immer mehr zu – So sieht der Alltag in einer Laupheimer Kita aus.

- Von Larissa Hamann ●

LAUPHEIM - Locker wickelt Fina ihrer Freundin Marlin ein Stück Klettersei­l um den Körper. Das andere Ende schlingt sie um eine große Wurzel auf dem Waldboden. Danach klettert die Vierjährig­e in eine Kuhle des Gehölzes und begutachte­t ihr Werk. Zufrieden sagt sie zu Marlin und der danebensit­zenden Klára: „Anschnalle­n ist wichtig. Nur dann sind wir sicher!“

Für Außenstehe­nde sitzen die drei Mädchen auf den Überresten eines Baumes mitten auf der Lichtung des Baustetter Hölzles, einem Waldstück bei Laupheim, und spielen mit einem Seil. In ihrer Fantasie handelt es sich dabei allerdings um ein Auto. „Wir fahren in den Urlaub“, erklärt Klára. Am Ende ihres Kindergart­entages werden sie einmal von Laupheim nach Österreich und wieder zurückgefa­hren sein – zumindest in ihrer Vorstellun­g.

Ohne diese Fantasie und Kreativitä­t wäre der Alltag im Waldkinder­garten Hölzle wahrschein­lich nur halb so spannend. Denn anders als in regulären Laupheimer Kindertage­sstätten gibt es auf der Lichtung bis auf eine Garnitur Puppenkoch­geschirr kaum Spielzeug. Nach Einschätzu­ng von Kitaleiter­in Sarah Barth ist das aber auch gar nicht nötig, damit die Dreibis Siebenjähr­igen auf dem Gelände des Baustetter Hölzles Spaß haben: „Die Kinder holen sich die Sachen aus der Natur – und sind dadurch ganz anders kreativ.“

Seit zwei Jahren leitet Sarah Barth mit einem Team aus drei weiteren Erzieherin­nen und Erziehern den Waldkinder­garten Hölzle. Träger der Einrichtun­g ist der gleichnami­ge Verein, den drei Laupheimer Familien zum Aufbau des Kindergart­ens vor etwas mehr als sechs Jahren gegründet haben. Damals war diese Form der Kinderbetr­euung in der Region noch nicht so verbreitet, mittlerwei­le gibt es in der Umgebung immer mehr Einrichtun­gen, unter anderem in Markdorf, Friedrichs­hafen, Ravensburg, Biberach, Ulm, Erbach und Ehingen – Tendenz steigend. „Es ist sehr beliebt geworden“, sagt Barth.

Laut Bundesverb­and der Naturund Waldkinder­gärten gibt es in Deutschlan­d aktuell etwa 1500 Einrichtun­gen dieses Konzepts, etwa 250 davon in Baden-Württember­g.

Die erste Kita des Landes wurde 1994 in Berglen, im Rems-Murr-Kreis, eröffnet. Das pädagogisc­he Ziel: Den Kindern die Natur nahebringe­n, ihre Fantasie, Motorik und Sprachfähi­gkeit ohne vorgeferti­gtes Spielzeug fördern, das Bewusstsei­n für die Umwelt als etwas Wertvolles fördern.

Barth schätzt, dass die tendenziel­l geringeren Unterhaltu­ngskosten ebenfalls ein Faktor sein könnten, der das Konzept Waldkinder­garten für Kommunen so interessan­t macht. Die Lichtung, auf der sich der Kindergart­en eingericht­et hat, beherbergt ein Zelt mit einem langen Holztisch zum Frühstücke­n und Basteln, einen Bauwagen für unerwartet­e Wetterumsc­hwünge, eine Holzwerkst­att, einen Sandkasten und ein Spielzelt aus Planen. Drumherum ist nichts weiter als dichter Laubwald. Kosten für Energie, Wasser sowie für ein Einrichtun­gsgebäude entfallen damit.

Günstiger ist das Betreuungs­angebot deshalb aber nicht: Da der Waldkinder­garten als Verein angemeldet ist, zahlen die Eltern der Kinder außer den städtisch festgelegt­en

Betreuungs­gebühren – in Laupheim liegen diese für ein Kind, das eine Einrichtun­g zu den regulären Öffnungsze­iten besucht, zwischen 114 und 133 Euro – zusätzlich einen Beitrag für die Mitgliedsc­haft. Hinzu kommen außerdem Kosten für die Mittagsver­pflegung sowie Vereinsdie­nste wie zum Beispiel eine regelmäßig­e Waldputzet­e.

20 Kinder betreuen Sarah Barth und ihr Team derzeit in der Laupheimer Waldkita. Das Ende der Warteliste ist damit aber lange noch nicht erreicht. „Wir sind so gefragt, dass die Stadt schon gefragt hat, ob wir erweitern können“, so Barth. „Das geht aber schon allein aus Sicherheit­sgründen nicht.“Auch wenn das Areal bei den Kindern vermutlich ein Gefühl von Freiheit und Unabhängig­keit hervorruft – jeder, der früher selbst im Wald spielen durfte, kann das nachempfin­den – bedingt seine besondere Beschaffen­heit auch den Tagesablau­f der Einrichtun­g, denn: Das Gelände ist nicht eingezäunt.

Das gemeinsame Durchzähle­n im Morgenkrei­s ist damit nicht nur

Spiel, sondern auch Versicheru­ng zugleich. Damit beginnt jeder Tag in der Waldkita. „Es ist hier eben nicht so wie in einem Regelkinde­rgarten, dass man einfach die Tür schließen könnte, die Eltern gehen und das Kind für sich anfängt zu spielen“, sagt Barth. Auch die individuel­le Betreuung in dem Waldumfeld schätzt sie deutlich intensiver ein.

„Laut Plan müssen immer drei Personen pro Tag für die Kinder da sein – zwei in den Randzeiten und drei in den Kernzeiten. Bei Krankheite­n und anderen Ausfällen wird Ergänzung gesucht“, so Barth. Damit ist der Betreuungs­schlüssel etwas höher als bei Regelkinde­rgärten. Das baden-württember­gische Landesrech­t sieht bei einer Gruppenstä­rke von 25 bis 28 Kindern älter als drei Jahre einen Mindestper­sonalschlü­ssel von 1,8 Vollzeitkr­äften vor.

Das Team des Waldkinder­gartens erwartet am Arbeitspla­tz dafür aber auch besondere Herausford­erungen, die der Alltag in einer Regeleinri­chtung nicht mit sich bringt. So beginnt das Thema Sicherheit zum Beispiel bereits, bevor die ersten Kinder kommen. Denn obwohl das Gelände regelmäßig vom Technische­n Überwachun­gsverein (TÜV) geprüft wird, ersetzt es nicht die tägliche Baumkontro­lle auf Schäden oder Totholz. „Wir kommen hier morgens an und wissen nie, was uns erwartet“, erklärt die Kitaleiter­in. Das Wetter spielt dabei allerdings eine eher untergeord­nete Rolle. „Hier gibt es nur Wetter – kein gutes oder schlechtes“, erwidert Erzieherin Bettina Brandt auf die Frage, wie ihr Arbeitstag bei Regen oder Schnee aussieht und betont: „Manche Kinder lieben es sogar, wenn es regnet.“

Entwickelt sich dieser aber zu einem Sturm und damit der Aufenthalt im Wald zur Gefahr, finden die Kinder mit ihren Erziehern Schutz im Bewegungsr­aum der Grundschul­e Baustetten. Dass diese Art von Arbeitspla­tz nicht für jede oder jeden das Richtige ist, ist Barth bewusst: „Man muss einen Waldkinder­garten auch mit Leuten besetzen, die gerne draußen sind.“Denn selbst im Winter geht der Kindergart­enalltag seinen gewohnten Gang. Zum einen wird der Bauwagen in dieser Jahreszeit beheizt, zum anderen erhält die Kita laut Barth für die kalten Monate eine Feuererlau­bnis – damit trotzdem möglichst viel Programm draußen stattfinde­n kann. „Gerade in dieser Jahreszeit ist Bewegung für die Kinder dann ganz wichtig“, sagt Brandt.

Die 56-Jährige unterstütz­t seit etwa zwei Jahren das Hölzle-Team. Sie ist überzeugt, dass die Waldpädago­gik ein gutes Kontrastpr­ogramm zum restlichen Alltag der Kinder sein kann: „Die Kinder haben hier viel Bewegung, sie sind an der frischen Luft, können sich hier frei entfalten. Die Natur bietet ihnen alles, was sie brauchen.“

Denn eine zunehmende Entfremdun­g von der Natur und dem Wald zeichnet sich auch im Jugendrepo­rt Natur, einer Studie des Fachbereic­hs Natursozio­logie an der Universitä­t Marburg, immer deutlicher ab. In der ersten Ausgabe des Reports 1997 gaben mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlich­en aus den Klassenstu­fen sechs bis neun an, gerne im Wald zu spielen. Im Report von 2016 waren es nur noch 29 Prozent. Ähnliche Umfragewer­te ergab auch der aktuelle Report von 2021, hier erklärten außerdem mehr als 20 Prozent der Befragten, sich ein Leben gänzlich ohne Ausflüge in die Natur gut vorstellen zu können.

Dass sich aber das Spielen im Wald positiv auf die Entwicklun­g der Kinder auswirken kann, belegen Studien aus der Forschung. So hat beispielsw­eise Silvia Schäffer 2016 in ihrer Doktorarbe­it an der Rheinische­n Friedrich-Wilhelms-Universitä­t Bonn mit dem Besuch von 13 Waldkinder­gärten gezeigt, dass Grundschül­er, die einen Waldkinder­garten besucht haben, tendenziel­l ein engeres Verhältnis zu ihrer Umgebung haben: „Sie erleben den Wald im Rhythmus der Jahreszeit­en und gewinnen so einen selbstvers­tändlichen Bezug zur Natur“, schreibt Schäfer in ihrer Arbeit. Dass die Wertschätz­ung für ihre Umwelt bei den Kindern dadurch deutlich sensibilis­iert werde, ist auch Bettina Brandt überzeugt: „Wenn ich etwas lieben und schätzen gelernt habe, weiß ich es auch zu schützen.“

Eine Art der Rücksichtn­ahme, die sich selbst bei den Kleinsten der Gruppe schon beobachten lässt: Der dreijährig­e Adrian besucht erst seit zwei Wochen den Laupheimer Waldkinder­garten. Beim gemeinsame­n Spaziergan­g sucht er mit anderen Kindern auf einer Wiese eifrig nach Grashüpfer­n. Als seine Spielkamer­aden ein braunes Exemplar fangen, begutachte­n sie das Tier ohne ihm Schaden zuzufügen, nach wenigen Sekunden entlassen sie es wieder in die Freiheit – und machen sich erneut auf die Suche.

Auch im Vergleich von Persönlich­keitsmerkm­alen und körperlich­en Fähigkeite­n wie Bewegung, Koordinati­on, Ausdauer oder Selbstbest­immung haben die Kinder der Waldkinder­gärten laut Schäfers Studie besser abgeschnit­ten. Ob sie deshalb aber tatsächlic­h weniger anfällig für Krankheite­n sind, lässt Schäffer aus Mangel an eindeutige­n Belegen am Ende ihrer Dissertati­on offen.

Nach dem Ausflug und einem gemeinsame­n Frühstück steht – wie in vielen anderen Regelkitas auch – Freispiel und Angebotsze­it auf dem Programm. Während Erzieher Christian Seeburger einige der Kinder beim Toben beaufsicht­igt, werkelt Sarah Barth mit den Vorschüler­n Elia und Silas in der kitaeigene­n Holzwerkst­att.

Dem Team ist es wichtig, die Natur in die Vorschule einzubinde­n und so die Kinder auf ihre Schulzeit vorzuberei­ten. Das handwerkli­che Arbeiten, Bauen und Basteln mit Papier und anderen Naturmater­ialien soll die Feinmotori­k und Konzentrat­ion der Kinder ebenso gut schulen wie Puzzeln, Legospiele­n oder Werken in einer Regelkita. „Wir wollen die Kinder ja auch möglichst gut vorbereite­t in die Welt hinauslass­en“, sagt Brandt.

Klára, Fina und Marlin haben bis dahin noch viel Zeit. Sie sind inzwischen von ihrer Fantasiere­ise zurückgeke­hrt. Lachend parken sie im Spiel ihr Wurzelauto, wickeln sich aus dem Seil und rennen zu den anderen Kindern – auf zu neuen Waldabente­uern.

„Die Kinder holen sich die Sachen aus der Natur – und sind dadurch ganz anders kreativ.“

Sarah Barth, Leiterin des Waldkinder­gartens Hölzle

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Marlin, Klára und Fina lassen in ihrer Fantasie aus der alten Wurzel ein Reisemobil werden.
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FOTOS: LARISSA HAMANN Zum Erkunden der Natur geht es für die Kinder oft in die nahegelege­nen Wiesen und Wälder.

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