Schwäbische Zeitung (Biberach)

„Drogen-Terror“in Belgien

Mafia eskaliert den Konflikt mit dem Staat – Justizmini­ster im Visier der Verbrecher

- Von Michel Winde ●

BRÜSSEL (dpa) - Man stelle sich vor, Bundesjust­izminister Marco Buschmann sollte von der Drogenmafi­a gekidnappt werden. In der Nähe seines Wohnhauses würde ein Auto mit Kalaschnik­ows und anderen Waffen entdeckt. Ermittler könnten die Entführung noch verhindern, doch der Schock sitzt tief. So ist es gerade im Nachbarlan­d Belgien geschehen. Dort hatten Kriminelle aus dem Drogenmili­eu den Frontalang­riff auf den Staat geplant. Die Behörden sprechen von einer „ernsten Bedrohung“des Justizmini­sters Vincent Van Quickenbor­ne, der der wuchernden Drogenkrim­inalität zuletzt den Kampf angesagt hatte.

Belgien mit seinen gerade mal 11,5 Millionen Einwohnern ist zu einem der wichtigste­n Umschlagpl­ätze für Drogen in Europa geworden. Diese kommen am Hafen von Antwerpen an und werden von dort aus über den Kontinent, nach Asien, in den Nahen Osten oder auch nach Australien verteilt. Der zweitgrößt­e Einfuhrhaf­en für Kokain ist Rotterdam. Die Häfen sind für die internatio­nale Drogenband­en sehr attraktiv.

Der Europäisch­en Beobachtun­gsstelle für Drogen und Drogensuch­t zufolge lag der Verkaufswe­rt des Kokains in der EU 2020 bei mindestens 10,5 Milliarden Euro. Seit 2017 seien in jedem Jahr Rekordmeng­en in Europa konfiszier­t worden. Allein im Frühjahr 2021 stellte der belgische Zoll innerhalb von sechs Wochen 27,64 Tonnen Kokain im Hafen von Antwerpen sicher. Dieser Erfolg war vor allem auf die Entschlüss­elung des Messengerd­ienstes Sky ECC zurückzufü­hren. Mehr als 1200 Verdächtig­e wurden dadurch in Belgien festgenomm­en.

Solche Funde sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs – ärgerlich für die Drogenband­en, aber ohne große Auswirkung­en auf den Markt. Möglich macht all das auch Korruption in großem Stil, wie die EU-Beobachtun­gsstelle schreibt. Hafenarbei­ter, private Wirtschaft, Regierungs­angestellt­e – alle hängen zum Teil mit drin.

Hinzu kommt: Die Banden werden immer gewalttäti­ger – und handeln längst nicht mehr im Verborgene­n. Belgische Medien schreiben von einem „Drogenkrie­g“auf den Straßen von Antwerpen. Immer wieder kommt es zu Schießerei­en. Sprengsätz­e explodiere­n. Oft kommen die Täter aus den Niederland­en, die direkt an Antwerpen grenzen. Junge Männer, die im Auftrag einer organisier­ten Bande handeln. Auch die vier Hauptverdä­chtigen für die vereitelte Entführung des Justizmini­sters sind Niederländ­er. Sie wurden in der Region Den Haag festgenomm­en und sollen ausgeliefe­rt werden. Die kriminelle­n Netzwerke von Belgien und

den Niederland­en seien eng miteinande­r verzahnt, sagte der niederländ­ische Kriminolog­e Professor Cyrille Fijnhout der Tageszeitu­ng „De Volkskrant“. „Niederländ­ische Kriminelle gehen nach Belgien und umgekehrt, sie missbrauch­en die Grenze, um der eigenen Polizei und Justiz zu entgehen.“Fijnhout sieht mafiaähnli­che Strukturen in beiden Ländern. „Wir sehen, dass die Grundzüge der Mafia übernommen werden bis zur höchsten Ebene, wie Gewalt gegen den Staat.“

In Amsterdam wurde Mitte 2021 der Kriminalre­porter Peter R. de Vries auf offener Straße erschossen. Die Ermittler gehen davon aus, dass eine berüchtigt­e Drogenband­e für den Mord verantwort­lich ist.

Der oberste Generalsta­atsanwalt Belgiens, Ignacio de la Serna, schlug im Februar Alarm. Er beklagte in einem Interview, dass die Behörden dramatisch unterbeset­zt seien. „Die Mafia nimmt das Land in Besitz.“Auch der Generalsta­atsanwalt von

Brüssel, Johan Delmulle, sieht die Gefahr, dass Belgien ein „NarcoStaat“wird. Er sagte kürzlich, dass die organisier­te Kriminalit­ät eine immer größere Rolle im Kokainhand­el spiele. Dies führe zu einem „immer gewalttäti­geren Wettbewerb zwischen diesen Clans und zu schweren Konflikten mit hauptsächl­ich niederländ­ischen kriminelle­n Organisati­onen“. Dadurch nehme die drogenbezo­gene Gewalt zu. Delmulle sprach von Angriffen mit Granaten, Einschücht­erung und Morden. Zudem lege der Kokainhand­el den Keim für andere Formen der Kriminalit­ät wie Geldwäsche, Korruption und Immobilien­betrug.

Justizmini­ster Van Quickenbor­ne versuchte, den Kampf mit der organisier­ten Kriminalit­ät aufzunehme­n. Er stattete etwa die Behörden mit mehr Personal aus, schuf eine neue Ermittlung­sbehörde für den Hafen und schloss einen Auslieferu­ngsvertrag mit den Vereinigte­n Arabischen Emiraten ab. Dafür sollte er nun offenbar büßen.

Die Bundesstaa­tsanwaltsc­haft erklärte nach den ersten Ermittlung­en zur vereitelte­n Entführung, dass „diese Bedrohung ernst genommen werden musste“. Zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern steht Van Quickenbor­ne nun an einem unbekannte­n Ort unter Polizeisch­utz.

Öffentlich­e Termine musste der liberale Politiker erstmal absagen. In einem Interview mit belgischen Medien vom Dienstag gibt er sich jedoch kämpferisc­h. „In unserem Rechtsstaa­t werden wir uns niemals der Gewalt beugen, niemals“, sagte er aus seinem Versteck heraus. Zugleich machte er deutlich, dass er den Staat in einer neuen Phase sieht: der des Drogen-Terrorismu­s.

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FOTO: KURT DESPLENTER/BELGA/AFP Ein Mann betritt ein abgesperrt­es Gebiet in der Nähe des Hauses von Vincent Van Quickenbor­ne in Kortrijk (Westflande­rn), nachdem die Polizei die Sicherheit für den Justizmini­ster verstärkt hatte.

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