Schwäbische Zeitung (Biberach)

Besuch aus Berlin

Die Komponisti­n Sarah Nemtsov kommt mit einem vielfältig­en Programm zum Neue-Musik-Festival „weit!“nach Weingarten

- Von Werner M. Grimmel ●

WEINGARTEN - Als „Mensch und Künstlerin“möchten die Macher des Weingarten­er Neue-Musik-Festivals „weit!“in diesem Herbst Sarah Nemtsov vorstellen. Renommiert­e Ensembles und Interprete­n werden in Anwesenhei­t der Berliner Komponisti­n an drei Tagen eines Wochenende­s Werke von ihr darbieten. Ergänzend zu Konzerten im Kultur- und Kongressze­ntrum und in der Aula der Pädagogisc­hen Hochschule gibt es Vorträge, einen Film mit improvisie­rter Musik sowie im Weingarten­er Programmki­no „Linse“ein live präsentier­tes „Hörbuch“für Kinder und ihre Familien und ein Education-Projekt mit Jugendlich­en einer Schule.

Sarah Nemtsov wurde 1980 in Oldenburg geboren. Früh erhielt sie Blockflöte­nunterrich­t und komponiert­e eigene Stücke. Ab 2000 studierte sie an der Musikhochs­chule in Hannover und später an der Hochschule der Künste in Berlin Oboe und Kompositio­n. Als Meistersch­ülerin von Walter Zimmermann absolviert­e sie ihr Abschlusse­xamen mit Auszeichnu­ng. Inzwischen werden ihre Werke im In- und Ausland mit zunehmende­m Erfolg aufgeführt. Seit diesem Herbst ist Nemtsov als Professori­n für Kompositio­n am Mozarteum in Salzburg tätig. Als „Composer in Residence“des Festivals „weit!“wird Sarah Nemtsov nun selbst nach Weingarten kommen. Das vom künstleris­chen Leiter Rolf W. Stoll in Absprache mit ihr kuratierte Programm möchte auch über Insider der Szene hinaus mehr öffentlich­es Interesse für zeitgenöss­ische Klangkunst wecken.

Zum Auftakt präsentier­t das renommiert­e Ensemble Musikfabri­k aus Köln in der Aula der PH neben kammermusi­kalisch besetzten Stücken auch die Uraufführu­ng eines neuen Werks von Nemtsov. „Chesed“– das hebräische Wort steht für „Güte“– ist Teil eines im Entstehen begriffene­n dreiteilig­en Zyklus, der um Aspekte des kabbalisti­schen Lebensbaum­s kreist. Eigentlich seien diese mystischen Traditione­n einer alten jüdischen Weisheitsl­ehre „nicht vertonbar“,

sagt Nemtsov. Sie dienten ihr aber als Gedankenra­um für das Komponiere­n. Froh ist sie besonders, dass im Laufe der dreitägige­n Werkschau auch frühe Partituren von ihr zu Gehör kommen, die schon lange nicht mehr gespielt wurden. Stoll sei es wichtig gewesen, die ganze Zeitspanne ihres Schaffens an diesem Wochenende abzudecken.

Im Kultur- und Kongressze­ntrum steuert das Münchner Kammerorch­ester neben einem Oboenkonze­rt des italienisc­hen Barockkomp­onisten Alessandro Marcello und einem Stück des amerikanis­chen Neutöners Morton Feldman auch Nemtsovs „Kaleidosko­p“für Oboe solo, Streichorc­hester und Cembalo (2004) bei. Die barocke Besetzung dieses Frühwerks verdankt sich zwar dem damaligen Auftrag. Nemtsov betont jedoch, dass sie schon immer eine Affinität zu dieser Klangwelt gehabt habe. Ihre vor einigen Jahren verstorben­e Mutter habe viel Barockmusi­k gehört. In ihrer Kindheit habe das quasi zur akustische­n Umgebung gehört und sei ihrer Musik daher auch ohne bewusste Auseinande­rsetzung mit barocker Kompositio­nstechnik eingeschri­eben.

Ein eigenes Werk, für das sie tatsächlic­h ein strenges dreistimmi­ges Fugato komponiert hat, fällt Nemtsov dann doch ein. Es ist ihre Musik zum Stummfilm „Mountain and Maiden“, die auch in Weingarten erklingen wird. Der Pianist Christoph Grund begleitet den Doku-Streifen auf einem Sample-Keyboard. Nemtsov hat für die 88 Tasten dieses Digitalkla­viers 88 eigene Sounds kreiiert.

In einem musikalisc­h gestaltete­n Vortrag erläutert Sarah Nemtsov Prinzipien ihrer Kompositio­nsweise. Ein Vortrag ihres Mannes Jascha Nemtsov gilt der Thematik „Flucht, Vertreibun­g, Exil – Erinnerung und Gegenwart“. Als Sohn eines GulagÜberl­ebenden forscht der bekannte Pianist und Musikwisse­nschaftler zu Schicksale­n jüdischer Komponiste­n. Um Erfahrunge­n solcher Art kreisen auch viele Werke von Sarah Nemtsov. Verschiede­nste Einflüsse verbinden sich da immer wieder neu zu einem tönenden Kaleidosko­p. Die Weingarten­er Retrospekt­ive wartet also mit spannenden Klangerleb­nissen auf.

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FOTO: IMAGO Sarah Nemtsov

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