Schwäbische Zeitung (Biberach)

Erzieherin­nen kritisiere­n Regierungs­plan

Die Fachkräfte möchten auch weiterhin ihrem pädagogisc­hen Auftrag gerecht werden

- Von Katrin Bölstler ●

- Weil landesweit Hunderte Erzieherin­nen fehlen, sollen in Baden-Württember­g die Kita-Gruppen vergrößert werden. Bereits im laufenden Kindergart­enjahr dürfen zwei Kinder mehr pro Gruppe aufgenomme­n werden. Während die meisten Kommunen diesen Schritt begrüßen, weil sie so den Rechtsansp­ruch auf einen Kita-Platz wenigstens teilweise wieder erfüllen können, befürchten viele Erzieherin­nen, dass sie ihrem pädagogisc­hem Auftrag nicht mehr gerecht werden können.

Der Morgenkrei­s ist das erste Ritual des Tages im Schussenri­eder Kindergart­en Wackelzahn. Es ist kurz nach neun Uhr an diesem Donnerstag, als Erzieherin und Kita-Leiterin Theresia Maucher alle Kinder ihrer Gruppe einsammelt und sie bittet, auf den kleinen bunten Kissen auf dem Boden des Gruppenrau­ms Platz zu nehmen. Während ein paar der Zwei- bis Sechsjähri­gen sich sofort brav auf ihre Knie setzen, zappeln zwei, drei andere noch eine Weile herum. Es braucht ein paar mahnende Worte von Maucher und ihrer Kollegin Rebecca Hepp, bis auch diese Kinder es schaffen, still zu sitzen. Die erste gemeinsame Aufgabe des Tages ist es, herauszufi­nden, welcher Wochentag und welches Datum heute ist. Die richtige Antwort darf nur verraten, wer streckt – auch das fällt einigen noch sehr schwer.

Da am Wochenende St. Martin gefeiert wird, steht eine kleine bunte Laterne in der Mitte des Kreises. Abwechseln­d dürfen die Kinder aufstehen und die Laterne im Kreis tragen, während ihre Spielkamer­aden verschiede­ne St.-Martin-Lieder singen.

Dem zweijährig­en Oskar wird es nach dem zweiten Lied langweilig. Anstatt zu singen, will er lieber kuscheln. Er krabbelt auf den Schoß von Rebecca Hepp und verbirgt sein Gesicht in ihrem weichen Pulli.

Es ist eine alltäglich­e Szene, wie sie jeden Tag in diesem und Hunderten anderen Kindergärt­en stattfinde­t. Gemeinsam zu singen, die Wochentage lernen, zu warten, bis man an der Reihe ist – hinter jeder spielerisc­hen Tätigkeit steckt das Ziel, die Kinder in ihrer Entwicklun­g zu fördern. „Wenn die Gruppen aber größer werden, bleibt immer weniger Zeit für das einzelne Kind“, sagt Kita-Leiterin Theresia Maucher.

Im Kindergart­en Wackelzahn sind zurzeit alle Erzieherin­nen-Stellen besetzt – ein Zustand, der längst nicht auf alle Kitas im Land zutrifft. Ist niemand krank, werden die zwei Gruppen im Wackelzahn von insgesamt sechs Fachkräfte­n betreut. Der Kindergart­en arbeitet nach dem offenen Prinzip, was bedeutet, dass nach dem Morgenkrei­s alle Türen geöffnet werden und die Kinder selbst entscheide­n können, ob sie in einem der vielen kleinen Räume basteln, malen oder puzzeln wollen.

„Sechs Fachkräfte, die zu bestimmten Zeiten noch von einer FSJ’lerin und einer PIA verstärkt werden, das klingt erst einmal nach viel. Tatsächlic­h sind aber immer mehrere von uns mit bestimmten Aufgaben beschäftig­t“, erklärt Maucher. So sieht das pädagogisc­he Konzept der Einrichtun­g zum Beispiel vor, dass die Kinder selbst entscheide­n können, wann sie ihre Pausenbrot­e essen. Daher sitzt immer mindestens eine Betreuungs­person mit den Kleinen im Essensraum. Eine weitere Erzieherin ist den halben Tag damit beschäftig­t, immer wieder die kleineren Kinder zu wickeln. Fast jeden Tag gibt es zudem mindestens eine weitere Aktivität, die Personal bindet. Am Donnerstag­vormittag zum Beispiel bilden die Vorschulki­nder eine extra Gruppe, um sie noch einmal ganz explizit auf diesen nächsten Schritt in ihrem Leben vorzuberei­ten.

Jedes Kind im Kindergart­en hat eine feste Bezugspers­on. Diese führt fortlaufen­d Protokoll, wie dieses Kind sich entwickelt und wo es noch Defizite hat. Einmal die Woche sitzt das gesamte Team zusammen und bespricht die Entwicklun­g aller Kinder. „Wenn wir vier Kinder mehr kriegen, bedeutet das auch vier Mal mehr ein solches Entwicklun­gskonzept zu erstellen und vier Mal mehr Elterngesp­räche. Machbar ist das. Aber es muss allen klar sein, dass diese Zeit dann bei den anderen Kindern fehlt“, stellt die Kita-Leiterin nüchtern fest.

Oskar hat sich mittlerwei­le entschiede­n, zuerst im Frühstücks­raum etwas zu essen und dann mit einem Freund Lego zu bauen. Erzieherin Rebecca Hepp behält ihn trotzdem im Auge, denn sie weiß, dass der Zweijährig­e noch mehr Nähe und Zuwendung als ihre älteren Kinder braucht. Oskar besucht die Einrichtun­g erst seit zweieinhal­b Monaten und ist eins der jüngsten Kindergart­enkinder. „Es ist ganz klar, dass wir für die Zweijährig­en viel mehr Zeit brauchen, denn sie sind noch viel unselbstst­ändiger“, sagt die Erzieherin. Während die Älteren sich schon selbst die Jacke oder die Schuhe binden könnten, braucht Oskar bei diesen Aufgaben noch Hilfe. Auch sie sieht die Entscheidu­ng der Landesregi­erung daher eher kritisch. „Es ist jetzt schon manchmal schwierig, allen Kindern und ihren Bedürfniss­en gerecht zu werden. Wie soll das dann werden, wenn noch mehr Kinder hier herumsprin­gen?“, fragt sie.

Schussenri­eds Bürgermeis­ter Achim Deinet kann die Bedenken der Erzieherin­nen nachvollzi­ehen. „Ich denke, dass es aber trotzdem der richtige Schritt ist, weil wir einen sehr hohen Standard in der Betreuung in Baden-Württember­g haben“, sagt er. Und anders lasse sich der Fachkräfte­mangel einfach nicht ausgleiche­n. „Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als die Nachfrage nach Betreuungs­plätzen und damit auch den gesetzlich­en Rechtsansp­ruch mit dem vorhandene­n Personal irgendwie abzufangen. Das ist die Realität“, so der Politiker.

Die Stadt Bad Schussenri­ed habe in den vergangene­n zwei Jahren die Anzahl der Betreuungs­plätze um 16 Prozent erhöht. Dennoch sei der Bedarf schneller gewachsen, als die Stadt habe reagieren können. Die finanziell­e Belastung, die im Kindergart­enbereich durch den kontinuier­lichen Ausbau entstehe, sei enorm. „Wir müssen uns daher überlegen, ob wir nicht doch zeitnah wenigstens einen Kostendeck­ungsgrad von 20 Prozent über die Elternbeit­räge erreichen“, sagt er. Von diesem Ziel sei die Stadt bisher weit entfernt. Die Anspruchsh­altung mancher Eltern, was der Staat alles zu leisten habe, müsse seiner Ansicht nach überdacht werden. „Wenn das Kindergeld nun erhöht wird, wie von der Bundesregi­erung angekündig­t, wäre es kein Fehler, dies in die Kita-Gebühren einfließen zu lassen“, so sein Vorschlag.

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