Schwäbische Zeitung (Biberach)
Erzieherinnen kritisieren Regierungsplan
Die Fachkräfte möchten auch weiterhin ihrem pädagogischen Auftrag gerecht werden
- Weil landesweit Hunderte Erzieherinnen fehlen, sollen in Baden-Württemberg die Kita-Gruppen vergrößert werden. Bereits im laufenden Kindergartenjahr dürfen zwei Kinder mehr pro Gruppe aufgenommen werden. Während die meisten Kommunen diesen Schritt begrüßen, weil sie so den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz wenigstens teilweise wieder erfüllen können, befürchten viele Erzieherinnen, dass sie ihrem pädagogischem Auftrag nicht mehr gerecht werden können.
Der Morgenkreis ist das erste Ritual des Tages im Schussenrieder Kindergarten Wackelzahn. Es ist kurz nach neun Uhr an diesem Donnerstag, als Erzieherin und Kita-Leiterin Theresia Maucher alle Kinder ihrer Gruppe einsammelt und sie bittet, auf den kleinen bunten Kissen auf dem Boden des Gruppenraums Platz zu nehmen. Während ein paar der Zwei- bis Sechsjährigen sich sofort brav auf ihre Knie setzen, zappeln zwei, drei andere noch eine Weile herum. Es braucht ein paar mahnende Worte von Maucher und ihrer Kollegin Rebecca Hepp, bis auch diese Kinder es schaffen, still zu sitzen. Die erste gemeinsame Aufgabe des Tages ist es, herauszufinden, welcher Wochentag und welches Datum heute ist. Die richtige Antwort darf nur verraten, wer streckt – auch das fällt einigen noch sehr schwer.
Da am Wochenende St. Martin gefeiert wird, steht eine kleine bunte Laterne in der Mitte des Kreises. Abwechselnd dürfen die Kinder aufstehen und die Laterne im Kreis tragen, während ihre Spielkameraden verschiedene St.-Martin-Lieder singen.
Dem zweijährigen Oskar wird es nach dem zweiten Lied langweilig. Anstatt zu singen, will er lieber kuscheln. Er krabbelt auf den Schoß von Rebecca Hepp und verbirgt sein Gesicht in ihrem weichen Pulli.
Es ist eine alltägliche Szene, wie sie jeden Tag in diesem und Hunderten anderen Kindergärten stattfindet. Gemeinsam zu singen, die Wochentage lernen, zu warten, bis man an der Reihe ist – hinter jeder spielerischen Tätigkeit steckt das Ziel, die Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern. „Wenn die Gruppen aber größer werden, bleibt immer weniger Zeit für das einzelne Kind“, sagt Kita-Leiterin Theresia Maucher.
Im Kindergarten Wackelzahn sind zurzeit alle Erzieherinnen-Stellen besetzt – ein Zustand, der längst nicht auf alle Kitas im Land zutrifft. Ist niemand krank, werden die zwei Gruppen im Wackelzahn von insgesamt sechs Fachkräften betreut. Der Kindergarten arbeitet nach dem offenen Prinzip, was bedeutet, dass nach dem Morgenkreis alle Türen geöffnet werden und die Kinder selbst entscheiden können, ob sie in einem der vielen kleinen Räume basteln, malen oder puzzeln wollen.
„Sechs Fachkräfte, die zu bestimmten Zeiten noch von einer FSJ’lerin und einer PIA verstärkt werden, das klingt erst einmal nach viel. Tatsächlich sind aber immer mehrere von uns mit bestimmten Aufgaben beschäftigt“, erklärt Maucher. So sieht das pädagogische Konzept der Einrichtung zum Beispiel vor, dass die Kinder selbst entscheiden können, wann sie ihre Pausenbrote essen. Daher sitzt immer mindestens eine Betreuungsperson mit den Kleinen im Essensraum. Eine weitere Erzieherin ist den halben Tag damit beschäftigt, immer wieder die kleineren Kinder zu wickeln. Fast jeden Tag gibt es zudem mindestens eine weitere Aktivität, die Personal bindet. Am Donnerstagvormittag zum Beispiel bilden die Vorschulkinder eine extra Gruppe, um sie noch einmal ganz explizit auf diesen nächsten Schritt in ihrem Leben vorzubereiten.
Jedes Kind im Kindergarten hat eine feste Bezugsperson. Diese führt fortlaufend Protokoll, wie dieses Kind sich entwickelt und wo es noch Defizite hat. Einmal die Woche sitzt das gesamte Team zusammen und bespricht die Entwicklung aller Kinder. „Wenn wir vier Kinder mehr kriegen, bedeutet das auch vier Mal mehr ein solches Entwicklungskonzept zu erstellen und vier Mal mehr Elterngespräche. Machbar ist das. Aber es muss allen klar sein, dass diese Zeit dann bei den anderen Kindern fehlt“, stellt die Kita-Leiterin nüchtern fest.
Oskar hat sich mittlerweile entschieden, zuerst im Frühstücksraum etwas zu essen und dann mit einem Freund Lego zu bauen. Erzieherin Rebecca Hepp behält ihn trotzdem im Auge, denn sie weiß, dass der Zweijährige noch mehr Nähe und Zuwendung als ihre älteren Kinder braucht. Oskar besucht die Einrichtung erst seit zweieinhalb Monaten und ist eins der jüngsten Kindergartenkinder. „Es ist ganz klar, dass wir für die Zweijährigen viel mehr Zeit brauchen, denn sie sind noch viel unselbstständiger“, sagt die Erzieherin. Während die Älteren sich schon selbst die Jacke oder die Schuhe binden könnten, braucht Oskar bei diesen Aufgaben noch Hilfe. Auch sie sieht die Entscheidung der Landesregierung daher eher kritisch. „Es ist jetzt schon manchmal schwierig, allen Kindern und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Wie soll das dann werden, wenn noch mehr Kinder hier herumspringen?“, fragt sie.
Schussenrieds Bürgermeister Achim Deinet kann die Bedenken der Erzieherinnen nachvollziehen. „Ich denke, dass es aber trotzdem der richtige Schritt ist, weil wir einen sehr hohen Standard in der Betreuung in Baden-Württemberg haben“, sagt er. Und anders lasse sich der Fachkräftemangel einfach nicht ausgleichen. „Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als die Nachfrage nach Betreuungsplätzen und damit auch den gesetzlichen Rechtsanspruch mit dem vorhandenen Personal irgendwie abzufangen. Das ist die Realität“, so der Politiker.
Die Stadt Bad Schussenried habe in den vergangenen zwei Jahren die Anzahl der Betreuungsplätze um 16 Prozent erhöht. Dennoch sei der Bedarf schneller gewachsen, als die Stadt habe reagieren können. Die finanzielle Belastung, die im Kindergartenbereich durch den kontinuierlichen Ausbau entstehe, sei enorm. „Wir müssen uns daher überlegen, ob wir nicht doch zeitnah wenigstens einen Kostendeckungsgrad von 20 Prozent über die Elternbeiträge erreichen“, sagt er. Von diesem Ziel sei die Stadt bisher weit entfernt. Die Anspruchshaltung mancher Eltern, was der Staat alles zu leisten habe, müsse seiner Ansicht nach überdacht werden. „Wenn das Kindergeld nun erhöht wird, wie von der Bundesregierung angekündigt, wäre es kein Fehler, dies in die Kita-Gebühren einfließen zu lassen“, so sein Vorschlag.