Schwäbische Zeitung (Biberach)

„Bin kein schlechter Mensch, weil ich mir die Spiele ansehe“

Sportrepor­ter Marcel Reif über die WM in Katar, den Spagat zwischen Sportliche­m und Politische­m und seine Erwartunge­n an das DFB-Team

- Von Martin Deck

RAVENSBURG - Mehr als 1000 Fußballspi­ele am Mikrofon, bei drei Weltmeiste­rschaften als Kommentato­r vor Ort, als Experte bis heute sehr gefragt: Marcel Reif hat im Fußball nahezu alles erlebt. Die Weltmeiste­rschaft in Katar ist aber auch für den 72-Jährigen eine ganz neue Erfahrung. Weshalb er die Spiele trotz aller Kritik am Gastgeberl­and schauen möchte, was er von seinen Journalist­en-Kollegen erwartet, und was er von der FIFA hält, erklärt der „Grandseign­eur des Sportjourn­alismus“(„Bild“-Zeitung) im Gespräch mit Martin Deck.

Herr Reif, Sie sind als Kind mit Ihrer Familie aus Schlesien über Israel nach Deutschlan­d übergesied­elt und kamen 1957 als Siebenjähr­iger ausgerechn­et nach Kaiserslau­tern – die Stadt der Weltmeiste­r. Dort spielten Sie in der Jugend des FCK, dem Club der Helden von Bern um Fritz Walter und Co. Haben Sie dadurch ein besonderes Verhältnis zu Fußball-Weltmeiste­rschaften?

Der Fußball hat mich von A bis Z geprägt und Weltmeiste­rschaften sind in diesem Sport nun mal die Königsmess­en. Da sie nur alle vier Jahre stattfinde­n – und lieber Gott, lass es dabei belassen! – haben sie von Grund auf einen besonders hohen Stellenwer­t. Es treffen Nationalma­nnschaften aufeinande­r, Menschen, die sonst nie gegeneinan­der spielen würden. Das ist eine ganz einzigarti­ge Erfahrung. Das hat sich früh bei mir eingebrann­t. Die WM 1958 habe ich als Kind vor dem Radio verfolgt, beim Finale von Wembley 1966 habe ich vor dem Schwarz-Weiß-Fernseher mitgefiebe­rt, das Jahrhunder­tspiel zwischen Deutschlan­d und Italien im Halbfinale von Mexiko City 1970 habe ich zusammen mit meinen Mitstudent­en geschaut – ich kann noch immer sagen, wo ich damals jeweils war, es muss also etwas Außergewöh­nliches gewesen sein. Daran hat sich auch nichts verändert, als ich dann 1986 zum ersten Mal als Reporter auch beruflich bei einer Weltmeiste­rschaft vor Ort war.

In wenigen Tagen beginnt nun das Turnier in Katar. Sind sie schon in Stimmung, oder ist es in diesem Jahr anders?

Nicht nur bei mir ist dieses Mal vieles anders – nicht alles, aber vieles. Es ist keine normale WM, kann sie gar nicht sein. Allein schon der ungewohnte Termin im Winter macht einen stutzig. Und alles, was drum herum zu bedenken und besprechen ist, macht einen unbeschwer­ten Umgang mit dieser WM schlichtwe­g unmöglich.

Dennoch haben Sie schon angekündig­t, die Spiele verfolgen zu wollen, da Sie von einem Fernseh-Boykott nichts halten. Weshalb?

Jeder, der sagt, er schaut die WM nicht, weil sie ihm zu kontaminie­rt ist, der hat ebenso bedenkensw­erte Argumente für sich, wie jeder andere, der

sagt, er guckt die Spiele. Ich bin allerdings kein schlechter­er Mensch, weil ich mir die Spiele ansehe. Ich unterstütz­e deshalb kein autokratis­ches System und verschließ­e auch nicht die Augen vor dem, was an Menschenre­chtsverlet­zungen, an steinzeitl­ichem Denken und an Arbeitsbed­ingungen für die Gastarbeit­er in Katar Tatsache war und in großem Ausmaß noch immer ist. Wenn mir jemand garantiere­n könnte, dass es einer Frau, einem Arbeiter oder einem Homosexuel­len besser geht, wenn ich nicht gucke, dann bin ich sofort dabei. Das kann aber keiner.

Sie teilen die Meinung des DFB, dass man nur vor Ort etwas bewegen kann. Andere Sportveran­staltungen in der Vergangenh­eit können diese These aber nicht bestätigen. Warum, glauben Sie, wird es dieses Mal anders?

Ich glaube gar nichts, ich hoffe es. Und die Hoffnung lasse ich mir nicht nehmen. Wenn ich irgendwo hin kann, dann gehe ich auch hin. Meine Le

benserfahr­ung lehrt mich, dass man – wenn es schon so ist, wie es ist – versuchen muss, durch jeden Spalt, der sich öffnet, hineinzugu­cken und dadurch Druck zu erzeugen, damit sich Dinge schrittwei­se ändern können – vielleicht. Ob die WM dort hätte stattfinde­n dürfen, steht auf einem ganz anderen Papier, aber da müssen wir ins Jahr 2010 zurückgehe­n. Damals wurden bei der Vergabe Kriterien nicht angelegt, die es zwingend gebraucht hätte. Alle, die dabei waren, sagen, die Bewerbung Katars war die mit Abstand unsinnigst­e und trotzdem hat Katar die WM bekommen. An der Stelle hatte man noch die Hebel in der Hand. Aber wem ist jetzt geholfen, wenn man dieses Turnier boykottier­t?

Auch nach der Vergabe hat die FIFA, vorsichtig formuliert, nicht gerade das glücklichs­te Bild abgegeben. Sie leben in Zürich, der Stadt, in der der Weltverban­d seinen Hauptsitz hat. Waren sie in vergangene­n Jahren schon mal versucht, in der

Zentrale vorbeizusc­hauen und der FIFA als Medienprof­i ein paar Tipps zu geben?

Mit ein paar Tipps wäre es da nicht getan, die FIFA müsste sich völlig neu erfinden. Und glauben Sie mir, so einfach kommt man da nicht rein. Das Gebäude ist extrem abgeschott­et. Ich war ein-, zweimal beruflich drin und habe mir und meinem Gesprächsp­artner die ein oder andere kritische Frage gestellt. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass mir irgendjema­nd zuhört. Eines ist mir dennoch wichtig zu betonen: In der FIFA arbeiten zig Menschen, die einen super Job machen. Die FIFA macht vieles richtig, verwendet Geld für gute Dinge, fördert den Fußball in den entlegenst­en Ecken der Welt und kümmert sich um Entwicklun­gen. Den gesamten Verband zu verdammen, würde diesen Menschen nicht gerecht. Aber in der Führung, da ist die Sache seit vielen, vielen Jahren unerträgli­ch. Da gelten Gesetzmäßi­gkeiten, die mit Anstand und Sportsgeis­t aber mal so gar nichts zu tun haben.

Wenn wir schon an der Spitze sind: Im Gegensatz zu Ihnen lebt FIFAPräsid­ent Gianni Infantino mittlerwei­le lieber in Doha als in Zürich. Welches Bild sendet er damit?

Genau, das Bild, das Sie und ich uns sofort davon machen. Der erste Impuls. Ich denk dann immer wieder, urteile nicht vorschnell. Aber nein, da muss ich nicht mehr drüber nachdenken. Jeder darf wohnen, wo er will. Aber bei all diesen Diskussion­en, die wir rund um die WM in Katar führen müssen, ist das schon abenteuerl­ich.

Es sind Diskussion­en, die auch während des Turniers nicht abreißen werden. Haben Sie Mitleid mit ihren Nachfolger­n, die den Spagat zwischen sportliche­r und kritischer Berichters­tattung schaffen müssen?

Kein bisschen. Ich hoffe doch, dass Journalist­en noch nie irgendwo hingefahre­n und nur dem Bällchen hinterher gesprungen sind. Das machen Hunde. Aber erwachsene Menschen sollten die Augen aufmachen, sich eine Meinung bilden und das Drumherum berichten – egal wo sie sind. Wir dürfen aber nicht von den Kommentato­ren erwarten, dass sie nach jedem Absatz mit einem Statement ein Zeichen setzen. Dann beginnt die Thematik die Menschen zu nerven, und das darf auf keinen Fall passieren.

Und wie sieht es mit den Spielern aus: Sollten sie sich zu den politische­n Themen äußern, oder sich doch lieber aufs Sportliche konzentrie­ren?

Ich werde einen intelligen­ten Spieler wie Leon Goretzka sicher nicht daran hindern, sich Gedanken zu machen und diese auch zu äußern. Allerdings, anders als bei den Journalist­en, kann ich, will ich, werde ich das nicht von allen Spielern pauschal erwarten.

Versuchen wir zum Ende auch den schwierige­n Spagat vom Politische­n zum Sportliche­n: Was trauen Sie dem Kader, den Bundestrai­ner Hansi Flick zusammenge­stellt hat, bei der Endrunde zu?

Ich traue der Mannschaft alles zu, ich verlange aber nichts von ihr. Das ist eines der ersten Turniere, an die ich mich erinnern kann, bei dem die deutsche Nationalma­nnschaft nicht zu den Topfavorit­en zählt. Und das ist eine große Chance. Die Qualität ist zweifelsfr­ei da, aber ob sie schon ausreicht, um ganz vorne mitzuspiel­en, muss sich erst zeigen. Aber gerade, wenn sie nichts muss, wird eine Mannschaft häufig sehr gefährlich.

 ?? FOTO: FRANK HOERMANN/IMAGO ?? Kritischer Beobachter: Sportrepor­ter Marcel Reif blickt kritisch auf die WM in Katar.
FOTO: FRANK HOERMANN/IMAGO Kritischer Beobachter: Sportrepor­ter Marcel Reif blickt kritisch auf die WM in Katar.

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