Schwäbische Zeitung (Biberach)
Versehen mit fatalen Folgen
Die Explosion auf polnischem Territorium nahe der ukrainischen Grenze war eher kein gezielter Angriff Russlands – Es bleiben Fragen
BERLIN - Der tödliche Raketeneinschlag im polnischen Grenzgebiet zur Ukraine war nach Angaben Polens und der Nato kein vorsätzlicher Angriff. Der Vorfall sei wohl durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden, die gegen russische Angriffe mit Marschflugkörpern eingesetzt worden sei, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Dennoch bleiben viele Fragen.
Wie konnte das passieren?
Nach neun Monaten Krieg in der Ukraine ist nun geschehen, was von Anfang an als Gefahr galt: Dass nämlich auch Nato-Gebiet und die dort lebenden Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden. Ein gezielter russischer Angriff aber scheint es nicht gewesen zu sein, inzwischen wird auch im Bündnis angenommen, dass die in Ostpolen eingeschlagenen Raketentrümmer vom ukrainischen Flugabwehrsystem S-300 stammen. Es ist ein mobiles System sowjetischer Bauart, das sowohl von der Ukraine als auch von den Russen genutzt wird, um angreifende Flugkörper in der Luft abzufangen. Die russische Armee hat die Waffe allerdings auch schon eingesetzt, um Bodenziele in der Ukraine zu beschießen. Ihre Reichweite ist, je nach verwendetem Raketentyp, allerdings auf rund 200 Kilometer begrenzt. Zu beachten ist, dass die Flugbahn von Raketen durch den Zusammenprall in der Luft erheblich abgefälscht werden kann, wenn der Abschuss nicht hundertprozentig funktioniert.
Wie kann die Herkunft einer Rakete bestimmt werden?
Flugabwehrraketen des Typs S-300 verfügen über ein Radarsystem, das die Nachverfolgung ihrer Flugbahn und Herkunft ermöglicht. Falle das sogenannte Trägheitsnavigationssystem, das die Bewegung der Rakete festlegt, aus, fliege sie allerdings außer Kontrolle, erklärt Ulrich Walter, Professor für Raumfahrttechnik an der Technischen Universität in München. Das könne zwar erklären, warum die S-300 in Polen eingeschlagen ist. Allerdings sei es „unmöglich, den Verlauf der Rakete nachzuverfolgen“, so Walter.
Hätte die S-300 auch in Deutschland landen können?
Nein. Aufgrund ihrer Reichweite zumindest nicht, wenn sie von ukrainischem, russischem oder belarusischem Staatsgebiet gestartet wäre. Die kürzeste Distanz zwischen der deutschen und ukrainischen Grenze beträgt mehr als 550 Kilometer. Auch Russland ist demnach zu weit entfernt, ebenso wie die belarusische Grenze, an der russische Streitkräfte stationiert sind. Knapp 600 Kilometer beträgt die Luftlinie zu Deutschland. Die S-400 Triumf ist mit etwa 400 Kilometern die Flugabwehrrakete mit der längsten Reichweite.
Ist der Abschussort relevant?
Explizit ist nicht festgelegt, woher ein Angriff auf das Nato-Territorium kommen muss, um eine Reaktion auszulösen. Es herrsche aber Einigkeit darüber, dass ein Angriff im Sinne von Artikel 5 von außerhalb des Nato-Territoriums kommen müsse – das schließe eine Attacke eines anderen Bündnispartners oder einen rein innerstaatlichen Vorfall aus, so Bruno Tertrais, Vizedirektor der Stiftung für strategische Forschung. Dennoch bleibt weiterhin ungeklärt, wie die Nato reagiert, falls russische Truppen von belarussischem Territorium eine Rakete auf das Bündnisterritorium schießen würden. Belarus ist durch den „Unionsstaat“-Vertrag mit Russland in einer Verteidigungsgemeinschaft und wie Russland und andere zentralasiatische Staaten Mitglied der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“, die ähnlich wie die Nato einen Bündnisfall vorsieht.
Wie kommunizieren die Nato und Russland noch?
Es sind im Kern Verbindungen von Washington nach Moskau. Das „Rote Telefon“, das 1963 nach der Kubakrise eingerichtet wurde und eigentlich ein Fernschreiber war, hatte nach dem Ende des Kalten Krieges ausgedient. 2015, ein Jahr nach der Annexion der Krim durch Russland, wurde wieder eine direkte Verbindung zwischen den Generalstäben der Armeen Russlands und der USA in Betrieb genommen. Seit dem 1. März dieses Jahres gibt es eine Telefon-Hotline, deren amerikanische Seite im Europahauptquartier der US-Truppen in Stuttgart angesiedelt ist. Und erst vor wenigen Tagen haben sich CIA-Direktor Bill Burns und der russische Auslandsgeheimdienstchef Sergej Naryschkin in Ankara getroffen.
Könnte die Eskalationsgefahr Putin zu Verhandlungen zwingen?
Es ist zumindest nicht auszuschließen. Nach dem Desaster, das Russland bei dem G20-Gipfel erlebt hat, nach den militärischen Niederlagen und mit der Aussicht als RohstoffVasall Chinas zu enden, könnte diese Sicht stärken. Bundeskanzler Olaf Scholz hat seine Bereitschaft zu Gesprächen mit Russlands Präsident Wladimir Putin erneuert, der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hat Bereitschaft zu einem Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow signalisiert und die USA haben erklärt, Kiew habe freie Hand bei Verhandlungen.
Wie reagiert die Nato?
Im Hauptquartier der Nato in Brüssel herrscht derzeit Besorgnis, aber keine Panik. Für die versammelten Botschafter der 30 Nato-Staaten ist der Vorfall offenbar kein Anlass für eine Neubewertung der Sicherheitslage – eher eine Mahnung, wie groß die ständige Gefahr einer Eskalation im Ukraine-Krieg ist. Seit Beginn des russischen Angriffs ist das Bündnis im Alarmzustand.