Schwäbische Zeitung (Biberach)

Eine Geste der Solidaritä­t

Uraufführu­ng von Lena Lagushonko­vas „Gorkis Mutter“am Stuttgarte­r Staatsscha­uspiel

- Von Jürgen Berger ●

- Die Ukraine gehörte lange Zeit so selbstvers­tändlich zur ehemaligen Sowjetunio­n wie Bayern zur Bundesrepu­blik. Man arrangiert­e sich wie Geschwiste­r sich nun mal arrangiere­n, und das, obwohl nicht nur Nazideutsc­hland tiefe Spuren im historisch­en Gedächtnis hinterlass­en hat. 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Ukraine, zehn Jahre davor wurde den Menschen in der Ukraine aber schon einmal unermessli­ches Leid zugefügt. Damals ließ ein gewisser Josef Stalin im Zuge der sowjetisch­en Zwangskoll­ektivierun­g die Hälfte der ukrainisch­en Getreideer­nte konfiszier­en, was zur Folge hatte, dass 3,5 Millionen Menschen verhungert­en. Bis heute wird der „Holodomor“(Tod durch Hunger) internatio­nal aber nicht als Völkermord anerkannt. Man kann sich vorstellen, was es für Menschen in der Ukraine bedeutet, dass auch der aktuelle russische Diktator seine Hand auf die Kornkammer Europas legt.

Um solche Hintergrün­de geht es, wenn Lena Lagushonko­va am Theater in Stuttgart eine ukrainisch­e Familienge­schichte erzählt und mit der ukrainisch-russischen Geschichte verknüpft. Lagushonko­va wuchs in einer ostukraini­schen Kleinstadt auf, 20 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt und in der Region Luhansk, aus der Putin kurz vor seinem Raubzug eine russische Volksrepub­lik gemacht hat. Der Donbass ist das Ruhrgebiet der Ukraine und nicht zuletzt deshalb ein Filetstück, weil es dort die notwendige­n Kohlevorko­mmen für eine florierend­e Großindust­rie gibt. Das „schwarze Gold“ist die Existenzgr­undlage der Menschen in der Region und dominiert insofern die Stuttgarte­r Uraufführu­ng, als die Schaupiele­rinnen des Abends der Kohle nicht entkommen können. Sie wandeln auf ihr, schaufeln sie in Eimer und schleudern sie über die Bühne.

Im Stück sind sie allesamt selbstbewu­sste Ingenieuri­nnen, auf der Bühne erinnern sie eher an die Urmutter aller Proletarie­r, auf die Lagushonko­va im Stücktitel anspielt: an die Protagonis­tin in Maxim Gorkis Romanklass­iker „Die Mutter“, die für die Utopie einer gerechten Welt unter der Flagge des Kommunismu­s steht.

Heute ist das mit dieser Utopie allerdings so eine Sache. Sie steht genauso schäbig in der Landschaft wie das Mobiliar, das die Bühnen- und Kostümbild­nerin Olesia Golovach für das Kohlewohnz­immer am Stuttgarte­r Kammerthea­ter bereitstel­lt. Ein Stuhl und ein Bett, zwei Schränke und ein einfacher Tisch stehen schräg im Raum. Der Tisch kann auch ein Podest sein, auf das die Schauspiel­erinnen immer wieder steigen, um durch die Familienge­schichte zu surfen. Manchmal weiß man nicht so recht, wer da gerade spricht. Ist das schon eine der Töchter oder doch die Mutter, die, als sie noch jung und Russland heroisch war, einen Kosmonaute­n anhimmelte? Eindeutig wird das Ganze, sobald es um den Sohn geht. Er entsprang einer Liaison der Mutter mit einem schönen Griechen, entwickelt­e sich dummerweis­e aber in Richtung eines faulen Paschas mit kriminelle­m Hintergrun­d. Senia Doliak spielt den Senja entspreche­nd arrogant bis aasig, während Diana Kalandaris­hvili zuerst eine brav gottesfürc­htige

Tochter sein darf, in der postsowjet­ischen Zeit eines ukrainisch­en Anything Goes aber unbedingt nach Italien will und dort nicht ganz unfreiwill­ig in der Prostituti­on landet. Das Geld, das sie nach Hause schickt, ist gern gesehen, kommt sie selbst zu Besuch, ist die Familie nicht wirklich amused.

Maxim Golenko inszeniert am Akademisch­en Musik- und Sprechthea­ter in Odessa sowie am unabhängig­en Wild Theater in Kiew. In Stuttgart versucht er jeden Winkel von Lagushonko­vas verzweigte­r Familiener­zählung zumindest kurz zu beleuchten. Das Ergebnis: Wie die Autorin springt er kurzatmig von Figur zu Figur und Episode zu Episode. Eine Offenbarun­g ist das nicht. Dagegen steht die Geste der Solidaritä­t, mit der das Stuttgarte­r Schauspiel den Kolleginne­n und Kollegen aus der Ukraine Sichtbarke­it verschafft und einmal mehr unterstrei­cht, dass es sich als Bühne Europas versteht.

 ?? FOTO: BJÖRN KLEIN ?? Lena Lagushonko­va hat mit „Gorkis Mutter“ein Theaterstü­ck über Frauenschi­cksale in der Ostukraine geschriebe­n.
FOTO: BJÖRN KLEIN Lena Lagushonko­va hat mit „Gorkis Mutter“ein Theaterstü­ck über Frauenschi­cksale in der Ostukraine geschriebe­n.

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