Schwäbische Zeitung (Biberach)

Vom Fabrikdire­ktor zum „großen Führer“

China trauert um Ex-Staatschef Jiang Zemin – Trauer könnte zu Protesten führen

- Von Andreas Landwehr

(dpa) - Jiang Zemin hatte lange Mühe, als „großer Führer“in die Geschichte seines Landes eingehen zu können. Während seiner 13 Jahre als Parteichef und Staatsober­haupt erlebte China einen beispiello­sen Aufstieg zur Wirtschaft­smacht, der auf das Massaker von Tian'anmen 1989 folgte. Doch war Jiang Zemin nie für seine Visionen bekannt.

Er wirkte eher als Sachverwal­ter und Kompromiss­figur verschiede­ner Strömungen in der Partei, während sein tatkräftig­er Premier Zhu Rongji die Wirtschaft umkrempelt­e, den Beitritt in die Welthandel­sorganisat­ion (WTO) 2001 vorbereite­te und das kommunisti­sche Wohlfahrts­ystem der „Eisernen Reisschale“abbaute oder den Wohnungsma­rkt privatisie­rte.

Erst nach dem Wechsel 2002 zur Führungsge­neration mit Hu Jintao an der Spitze schien Jiang Zemin den Höhepunkt seiner Macht erreicht zu haben: Lange zog er als „starker Mann“im Hintergrun­d die Fäden. Jetzt ist er im Alter von 96 Jahren in Shanghai gestorben, wie die Parteiführ­ung berichtete.

Es war die Angst vor Instabilit­ät, die Jiang Zemin lange umtrieb. Hinter dieser Unsicherhe­it steckte auch ein Werdegang, der durch Zufall bestimmt war. Nach dem Sturz des reformeris­chen Parteichef­s Zhao Ziyang kurz vor der Niederschl­agung der Demokratie­bewegung am 4. Juni 1989 musste Deng Xiaoping einen Kompromiss­kandidaten finden. Er fand ihn in dem Technokrat­en, der bis dahin Shanghais Bürgermeis­ter war. Zwar verstand der frühere Fabrikdire­ktor etwas von Staatsbetr­ieben, aber moderne Aktienmärk­te waren ihm eher suspekt.

Unter seiner Regentscha­ft wurde 1997 die britische Kronkoloni­e Hongkong an China zurückgege­ben, ebenso 1999 die portugiesi­sch verwaltete Enklave Macao. Mit dem wachsenden Gewicht Chinas in der Welt gewann Jiang Zemin internatio­nal an Statur. Nach Protesten auf einer Europareis­e 1999 sah sich Jiang Zemin zu Unrecht mit Chiles Diktator Augusto Pinochet verglichen. Er empörte sich gegenüber einem europäisch­en Diplomaten: „Ich bin doch kein Diktator.“

Nach seinem Rückzug aus dem Amt 2002 ließ sich Jiang Zemin mit jungen Mädchen an der Uferpromen­ade Shanghais ablichten, setzte seine Inspektion­sbesuche im Lande wie früher fort und nahm zum Verdruss seines Nachfolger­s Hu Jintao weiter Einfluss auf wichtige Personalen­tscheidung­en. Doch nach dem nächsten Generation­swechsel 2012 zum heutigen Staats- und Parteichef Xi Jinping brachte ihm diese Strippenzi­eher-Rolle vor allem Ärger ein.

Im Volk wurde er gerne „der Senior“(Zhangzhe) genannt. „Hinter der Nostalgie für Jiang Zemin steckt aber nicht notwendige­rweise eine echte Verehrung oder Zustimmung zu seinem harschen Regierungs­stil, sondern eher Ablehnung gegenüber dem gegenwärti­gen Führer Xi Jinping“, schrieb Lotus Yang Ruan in „The Diplomat“.

Reformer war Jiang Zemin (geboren am 17. August 1926) nie, aber bekannt für seine Liebe zur Poesie. Gegenüber Staatsgäst­en gab er gerne Goethe oder Shakespear­e an. Doch Wertvorste­llungen westlicher Autoren fielen bei ihm nie auf fruchtbare­n Boden. „Das westliche Politikmod­ell darf niemals kopiert werden.“Politische Reformen schloss er aus. „Chinas politische­s System darf niemals erschütter­t werden.“Menschenre­chte kannte er nur als Recht auf Existenz. Alle Faktoren, die die Stabilität gefährdete­n, sollten „im Keim erstickt“werden. Ein Bürgerrech­tler nach dem anderen wanderte in Haft.

Jiang Zemin hinterließ China die häufig belächelte Leitlinie der „Drei Vertretung­en“(Sange Daibiao) und öffnete die Partei damit „fortschrit­tlichen Produktion­skräften“, sprich Privatunte­rnehmern. Die vage Theorie war eine Anpassung an die Realität und diente Jiang Zemin dazu, sein ideologisc­hes Manko auszugleic­hen und mit Deng Xiaoping und Mao Tsetung gleichzuzi­ehen. Sein Gedankengu­t wurde in der Verfassung verankert, sein Name – anders als bei seinen beiden großen Vorgängern oder zuletzt Xi Jinping – allerdings nicht.

In den vergangene­n Jahren gab es immer wieder Gerüchte über seinen Tod. Umso mehr Bewunderun­g weckte Jiang Zemin, wenn er trotz seines hohen Alters immer wieder quickleben­dig auftrat.

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FOTO: IMAGO Jiang Zemin, langjährig­er Parteichef und Staatsober­haupt Chinas, ist verstorben.

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