Schwäbische Zeitung (Biberach)
Aus der Strafkolonie auf den OP-Tisch
Inhaftierte belarussische Oppositionelle Maria Kolesnikowa in Klinik – Zustand unklar
- Warum Maria Kolesnikowa ins Krankenhaus kam, war am Mittwoch unbekannt. Aber sie ist am Montag in einer Unfallklinik in der Stadt Gomel operiert worden. Das schrieb der Telegramkanal des Stabes Viktor Babarikos, den Kolesnikowa früher leitete. Die Operation sei erfolgreich verlaufen, aber ihr Zustand weiter ernst. Die Ärzte verweigerten auch ihrem Vater Zutritt und Diagnose, es gibt unbestätigte Aussagen über ein durchgebrochenes Magengeschwür.
In den Tagen zuvor hatte die Verwaltung der Strafkolonie IK-4 in Gomel im Südosten von Belarus, wo Kolesnikowa gefangen gehalten wird, ihren Anwalt dreimal nicht zu ihr gelassen.
Maria Kolesnikowa gilt als Symbolfigur der belarussischen Opposition. Die 40-Jährige sitzt seit September 2020 im Gefängnis, ein Jahr später wurde sie als Extremistin, Umstürzlerin und Verschwörerin gegen die Staatssicherheit zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.
Die professionelle Flötistin und Kulturmanagerin hatte im Sommer 2020 den Stab des aussichtsreichen Oppositionskandidaten Viktor Babariko im belarussischen Präsidentschaftswahlkampf geleitet. Babariko wurde ebenso wie sein demokratischer Mitbewerber Sergei Tichanowski noch vor den Wahlen verhaftet, beide erhielten langjährige Haftstrafen.
Kolesnikowa aber tat sich mit Tichanowskis Frau Swetlana und Veronika Zepkalo zusammen, der Gattin eines anderen, nicht zugelassenen Kandidaten. Gemeinsam brachten sie Hunderttausende Menschen gegen den umstrittenen Wahlsieg von
Daueramtsinhaber Alexander Lukaschenko am 9. August 2020 auf die Straße. Aber angesichts der Brutalität, mit der die Sicherheitskräfte gegen die Protestbewegung vorgingen, flohen Tichanowskaja und Zepkalo ins Ausland. Nur Kolesnikowa blieb. Als die Staatsorgane versuchten, sie in die Ukraine abzuschieben, zerriss sie an der Grenze ihren Reisepass.
Die zierliche Frau mit der Kurzhaarfrisur verbreitete auch aus dem Gefängnis Optimismus. „Ich habe viel mehr gewonnen als verloren“, schrieb sie nach ihrem ersten Haftjahr auf Facebook, „einzigartige Erfahrung, ungeheuren Drive und innere Freiheit.“
Aber laut ihrer Verwandten landete Maria Kolesnikowa in Haft immer wieder im Karzer, damit bestraften die Wächter sehr willkürlich „unhöfliches Verhalten“oder „Aufenthalt am falschen Ort“. Der Telegramkanal des Stabes Viktor Babarikos
meldete erst am 22. November, sie sei wieder für unbestimmte Zeit im Karzer gelandet.
Der Karzer ist in Belarus eine kaum geheizte Isolationszelle mit einer Holzpritsche ohne Matratze oder Bettzeug. Die Sträflinge dürfen nur Zahnputzzeug, Seife, Klopapier und ein dünnes Handtuch mitbringen, wie Natalie Hersche, eine andere politische Gefangene, dem Portal iwpr.net erzählte. Um sich aufzuwärmen, sei sie nachts jede halbe Stunde aufgestanden und auf der Stelle gejoggt. Hersche verbrachte von 17 Monaten in Haft sechs im Karzer.
Laut dem Bürgerrechtsportal Wjasna gibt es in Belarus 1448 politische Häftlinge, Hunderttausende Menschen haben das Land seit 2020 verlassen. Darunter auch die meisten führenden Oppositionellen. Die Präsidentschaftskandidatin a. D. Tichanowskaja lebt im litauischen Vilnius, ihre Mitstreiterin Zepkalo im lettischen Riga. Zepkalo wirft Tichanowskaja vor, sie reise und repräsentiere zu viel und vernachlässige ihre eigentlichen Aufgaben, die politischen Gefangenen zu befreien und Neuwahlen zu erreichen.
Andere Exil-Oppositionelle berichten von erbitterter Konkurrenz zwischen einzelnen Fraktionen und werfen Tichanowskajas Gefolge vor, es kämpfe vor allem um EU-Gelder. „Gerade in Tichanowskajas Office sitzen viele, die nur weiter Oppositionspolitik gegen Lukaschenko machen, weil ihnen die Fremdsprachenkenntnisse und die berufliche Qualifikation fehlen, um eine andere Arbeit zu finden“, sagt ein früherer Aktivist der „Schwäbischen Zeitung“. „Und viele, die Kolesnikowa persönlich kennen, sagen, sie hätte am ehesten das Zeug gehabt, die Opposition im Exil anzuführen.“