Schwäbische Zeitung (Biberach)
Eine gewisse Sehnsucht nach Nostalgie
Amandine Fredon und Benjamin Massoubre erzählen im Kinofilm „Der kleine Nick erzählt vom Glück“viel mehr als ein Kinderabenteuer
Der kleine Nick war bereits der Held in drei Realfilmen und zwei Animationsserien. Nun kommt der erste lange Animationsfilm über den urfranzösischen Lausbuben unter der Regie von Amandine Fredon und Benjamin Massoubre in die Kinos.
Alles beginnt in einem französischen Café. Zwei junge Männer unterhalten sich über ihr neuestes „Baby“: Für den Vornamen steht eine Weinhandlung Pate, jetzt fehlt noch ein Adjektiv, meint René. JeanJacques stimmt zu. Vielleicht fing wirklich alles genau so an. Jedenfalls macht das Baby sehr bald Karriere: „Der kleine Nick“wird in 40 Sprachen übersetzt und viele Millionen Mal verkauft und so eine der berühmtesten Kinderbuchfiguren des 20. Jahrhunderts, eine ikonische Figur des Nachkriegsfrankreich. „Le Petit Nicolas“, so das Original, ist die zweite große Comic-Hauptfigur des „Asterix“-Erfinders René Goscinny (1926-1977). Gemeinsam mit dem Zeichner Jean-Jacques Sempé (19322022) ging es hier seit 1959 in über 200 Geschichten um die Abenteuer eines schelmischen französischen Jungen in der Welt der 1950er- und 1960er-Jahre. Beide Künstler hatten eine schlimme Kindheit: Goscinny verlor den größten Teil seiner Familie durch den Holocaust, während er mit seinen Eltern nach Argentinien floh. Sempés Vater war Alkoholiker, der seinen Sohn missbrauchte und seine Kindheit zerstörte. Beide Männer hatten mit dem kleinen Nick eine heile französische Welt geschaffen, um ihr eigenes Unglück zu kompensieren. In ihre Geschichten fließt die Sehnsucht ein, ihrem Helden eine glücklichere Kindheit zu bescheren, als sie selbst sie erlebten. Was damals trotzdem auch liebevoll-sanfte Ironisierung der vorgefundenen Alltagswirklichkeit war, wirkt heute oft wie nostalgische Rückbesinnung auf ein besseres „Früher“.
Dieser Film ist jedoch viel mehr als ein weiteres Abenteuer des kleinen Nick. Er erzählt nicht nur über die erwähnte Szene im Café, sondern ist auch Comic im Film, also die fantasierte Begegnung des kleinen Lausbuben
mit seinen beiden Schöpfern, indem Nick sich plötzlich vom Papier ablöst und über die Schreibmaschine auf den Tisch klettert. Diese Metaerzählung ist faszinierend, auch wenn sie nicht so tiefgründig ist, wie man hofft.
Und visuell ist dies alles wiederum im unvergleichlichen Stil der Zeichnungen Sempés gehalten. Die Regisseure ließen sich von Sempé und seiner Arbeit für den „New Yorker“inspirieren und verwenden sowohl klassische Kinoeffekte wie Licht- und Schattenspiele als auch „Kamerbewegungen“. So kommen die Bilder dem Original erstaunlich nahe und trotzdem ist dies ganz eindeutig ein Film.
Im Zentrum stehen die originalen Geschichten. Mit viel Humor reiht sich ein kurzweiliges Abenteuer an das nächste. Selten ist es betulich, selten überwiegen die deutlich historischen Momente, wie etwa in jener Episode, in der Nicks Familie ihren ersten Fernseher bekommt. Dazwischen wird immer wieder mit viel Respekt vor der Originalgeschichte auch von den Schöpfern erzählt. Im Gegensatz zum früh verstorbenen Goscinny hat Jean-Jacques Sempé die Premiere des Films beim diesjährigen Festival in Cannes noch miterlebt, bevor er im August dieses Jahres sechs Tage vor seinem 90. Geburtstag starb.
So verbinden sie die Lebensumstände ihrer Figur, das Leben am Stadtrand einer Großstadt, die mal wie Paris und mal wie Bordeaux aussieht, mit den Erlebnissen von Goscinny und Sempé. Das ist vor allem interessant für den Großteil des Publikums, der Goscinny und Sempé bislang allenfalls vom Namen her kannte. Es macht auch großen Spaß, die Entstehungsprozesse zu sehen. Die traurigen Episoden im Leben der beiden Männer sind dabei sehr einfach und kindgerecht erzählt. Im Hintergrund steht eine fast philosophische Frage, die Jung und Alt verbindet: Was ist das Glück? Warum wartet man immer darauf?
Manchmal ist der Film etwas uneinheitlich, weil die parallelen Erzählungen nicht immer ineinandergreifen. Manchmal überwiegt die Sentimentalität, aber die Mischung aus altmodischen, pittoresken Animationen und modernerem Stil gelingt dem Regieduo Amandine Fredon und Benjamin Massoubre meistens sehr gut.
Das Ergebnis ist ein hübscher, runder, ungewöhnlicher Animationsfilm mit vielen tollen Einzelelementen, auch wenn nicht alle davon so gut zusammenpassen, wie man es sich wünschen würde. Es lohnt sich auf jeden Fall, diesen unbeschwerten, luftigen Film anzusehen – erst recht wenn man selbst Erinnerungen an die Figur und eine gewisse Sehnsucht nach Nostalgie hat.
Der kleine Nick erzählt vom Glück,