Schwäbische Zeitung (Biberach)
Bankraub mit Zündstoff
In Deutschland wird praktisch täglich ein Geldautomat gesprengt. Die Täter entkommen meist unerkannt ins nahe Ausland. Den Bankkunden drohen nun Nachteile.
- Wie immer schlugen die Täter in den frühen Morgenstunden zu, Rebecca Sharpe aus Hailfingen (Landkreis Tübingen) erinnert sich sogar noch exakt an den Zeitpunkt. „Um 3.50 Uhr hat es rumms gemacht“, berichtet die Anwohnerin am Telefon. „Ich habe erst gedacht, jemand hat einen illegalen Silvesterknaller gezündet.“Stattdessen detonierte ein Sprengsatz, angebracht an einem Geldautomaten der Volksbank. Die Explosion Anfang Januar hat wohl die meisten Einwohner der kleinen Gemeinde aus dem Schlaf gerissen, die in den Sekunden danach in die nächtliche Stille lauschten, was wohl als Nächstes passieren würde. „Wenig später war zu hören, wie der Wagen wegrast.“Quietschende Reifen, aufheulender Motor, schwarzes Fluchtauto – ein Gangsterauftritt wie im Film.
Zurückblieb pure Verwüstung, durch die Druckwelle brach auch die Zwischenwand zum angrenzenden Dorfladen, in dem Sharpe arbeitet. „Die Detonation hat unser Lager zerrissen, die Bestände waren komplett zerstört.“Essig und Öle liefen aus, die Kühlzeile ging kaputt, es hätte aber noch viel schlimmer kommen können. Denn die Täter hatten zwei Sprengsätze montiert, von denen nur einer hochging. Den anderen entschärfte der aus Stuttgart herbeigeeilte Kampfmittelräumdienst. Und wenn beide explodiert wären? „Über dem Geldautomatenraum liegen zwei bewohnte Wohnungen“, sagt Sharpe. „Wir hatten wirklich Glück.“
Was nach Ausnahmezustand klingt, gehört hierzulande längst zum Alltag. Statistisch gesehen wird in Deutschland jeden Tag mindestens ein Geldautomat gesprengt. Die Polizeimeldungen sind voll von den Anschlägen, „teilweise haben sich bis zu fünf Geldautomatensprengungen in einer Nacht im gesamten Bundesgebiet ereignet“, teilt das Bundeskriminalamt (BKA) mit, das für 2022 mit einem neuen Höchststand rechnet von rund 460 gesprengten Automaten. Neben Nordrhein-Westfalen gelten Baden-Württemberg
und Bayern als beliebte Ziele der Täter, die oft aus dem Ausland kommen. Vor allem kriminelle Netzwerke aus der Region Utrecht/Amsterdam in den Niederlanden schicken ihre Leute, „die häufig einen marokkanischen Migrationshintergrund aufweisen“, so das BKA. Die Objekte, verkehrsgünstig gelegen, werden sorgfältig ausgekundschaftet, anschließend verstecken sich die Täter in Scheunen oder Garagen, bevor sie zur nachtschlafenden Zeit zuschlagen.
„Die Sprengungen erfolgen meist zwischen 2 und 4 Uhr am Morgen, der Raub dauert nicht länger als zwei, drei Minuten“, sagt Ludwig Waldinger vom Landeskriminalamt Bayern. „Danach flüchten sie in hoch motorisierten Fahrzeugen und mit extremer Rücksichtslosigkeit.“Mit 300 Stundenkilometern rasen die Räuber in der Dunkelheit über das gut ausgebaute Autobahnnetz in Deutschland zurück in ihre Heimat, hängen die Polizei trotz Großfahndung und Hubschraubereinsatz meist mühelos ab. Nur knapp mit dem Leben kam ein Polizeibeamter in Westfalen davon, der sich mit einem Sprung zur Seite retten konnte, als bei einer Polizeisperre ein Fluchtfahrzeug mit voller Geschwindigkeit auf ihn zuraste. Nun wird wegen versuchten Mordes ermittelt.
„Die Strafverfolgung ist sehr schwer. Wir sind bisher auch nicht erfolgreich, das muss man klipp und klar sagen“, erklärt Waldinger. Ganz im Gegensatz zu den Tätern. Fast jede Sprengung erbringt hohe Geldsummen, passen in einen Geldautomaten doch bis zu 500.000 Euro, insgesamt erbeuteten die Täter allein in 2021 rund 20 Millionen Euro.
Den größten Verlust erleiden die Kreditinstitute jedoch durch die Folgen der Zerstörungswut, Gebäude fingen schon Feuer oder drohten einzustürzen, die Schäden liegen jährlich im mittleren zweistelligen Millionenbereich. Hintergrund für die Verheerung ist auch eine veränderte Methodik, um die 1000 Kilogramm schweren Automaten aufzubrechen. Benutzten die Täter lange Zeit vor allem ein Gas-Luft-Gemisch, kommt nun vorwiegend Festsprengstoff der Marke Eigenbau zum Einsatz, im Fachjargon „BlitzKnall-Körper“oder „Explosivstoffe“genannt. „Die Wirkung ist unkalkulierbar“, sagt Waldinger. Herumfliegende Splitter, Steine und Metallteile gefährden außerdem Menschenleben, es gilt als glücklicher Zufall, dass bisher noch kein Unbeteiligter schwer verletzt wurde. „Diese Leute sind skrupellos“, sagt der Kripomann. Aber wieso kommen sie überhaupt nach Deutschland?
In den Niederlanden und auch in Frankreich haben die Banken ihre Automaten schon vor Zeiten technisch nachgerüstet – und die Täter damit nach Deutschland verdrängt, wo der Sicherheitsstandard niedriger ausfällt. Zudem sind Geldautomaten deutlich verbreiteter, weil die Deutschen ihr Bargeld lieben. Doch auch hierzulande setzt langsam eine Trendwende ein, lag die Zahl der Automaten schon bei rund 59.000 ist sie zuletzt auf 55.000 gesunken. Die Digitalisierung mag die treibende Kraft dahinter sein, beschleunigt durch das vermehrt bargeldlose Bezahlen während Corona. Aber auch die Automatensprengungen befördern den Schwund, wie Wiebke Schwarze, Sprecherin beim Deutschen Sparkassenund Giroverband, auf Anfrage bestätigt: „Der komplette Abbau von Geldautomaten ist für uns zwar weiterhin die Ultima Ratio, aber alternativlos, wenn durch den für Kriminelle reizvollen Standort des Automaten Gefahr für Leib und Leben Dritter besteht.“Insbesondere Automaten, die an Wohngebäude angrenzen, so Schwarze, werden genauer geprüft, ob sie im Falle einer Sprengung eine Bedrohung darstellen – und im Zweifel entfernt.
Allerdings muss ein Automat nicht immer verschwinden, manche Kreditinstitute versuchen es mit einer Zwischenlösung und schließen ihre Räume in der Nacht ab. Zu diesem Schritt hat sich zum Beispiel die Volksbank im Oberallgäu entschlossen, als kürzlich in Dietmannsried schon zum zweiten Mal in der Region ein Geldautomat aufgesprengt wurde. Auch im badischen Lörrach setzen die Banken nach zahlreichen Vorfällen auf Nachtschließungen zwischen 23 Uhr und 6 Uhr, wie Marco Kückmann, Vorstandsmitglied der Volksbank Dreiländereck, dem Südwestfunk erklärt: „Menschenleben stehen im Vordergrund. Da muss der Service an der Stelle leider ein bisschen zurückstehen.“
Wie gravierend die Einschnitte für den Kunden tatsächlich sind, sei dahingestellt. Da die Banken ihr Filialnetz wegen sinkender Rentabilität aber ohnehin ausdünnen, ist es mancherorts deutlich schwieriger, an Bargeld zu kommen, vor allem auf dem Land. „Diese Entwicklung sehen wir kritisch“, sagt Niels Nauhauser
von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. Bargeld, so der Bankenexperte, ist noch immer das einzige gesetzliche Zahlungsmittel. Zudem gebe es viele Menschen, die Wert darauf legen, nicht mit Karte oder Smartphone zu bezahlen, sondern bar – und damit anonym. In die Pflicht nimmt er dabei die Sparkassen. „Das Sparkassengesetz BadenWürttemberg verpflichtet dazu, die Versorgung des Verbrauchers mit Finanzdienstleistungen sicherzustellen, auch in der Fläche.“Immerhin kooperieren inzwischen viele Banken mit Supermärkten, Drogerien und Tankstellen, wo sich gleichzeitig mit dem Einkauf Bargeld vom Konto abheben lässt (Cash-Back). „Das weiß aber nicht jeder, vor allem die ältere Kundschaft ist es gewohnt, bar an der Kasse zu zahlen.“
Noch ist die alltägliche Bargeldversorgung nicht gefährdet, damit es so bleibt, fordert Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) von den Banken einen höheren Sicherheitsstandard, darunter Schließ- und Vernebelungstechnik sowie Einfärbe- und Klebesysteme, um Bargeld bei einer Sprengung unbrauchbar zu machen. Strobl setzt dabei auf Freiwilligkeit, sollte das aber nicht reichen, „wird eine gesetzliche Pflicht der Hersteller und Betreiber der Geldautomaten zur Umsetzung geeigneter Schutzmaßnahmen notwendig“, kündigt der Innenminister an.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) plädiert ebenfalls für eine „verstärkte Prävention“, mahnt aber auch eine enge Zusammenarbeit der Ermittler an, im Bund und vor allem mit den europäischen Nachbarn, so Herrmann.
Zumindest hierzulande scheinen Strafverfolgung und auch Vorbeugung inzwischen besser zu funktionieren. So konnte die Polizei vergangenen Dezember fünf Männer aus dem Raum Göppingen festnehmen, die zwischen Juni und Oktober vier Geldautomaten gesprengt haben sollen – allerdings hielten alle Automaten den Explosionen stand. Die Täter mussten jeweils ohne Diebesgut abziehen. Lediglich 60.000 Euro konnten die Verdächtigen den Ermittlungen zufolge bei einer weiteren Sprengung in Eislingen an der Fils erbeuten.
Erfolgreich war die Polizei auch in Rosenberg (Ostalbkreis), als sie sechs Männer auf frischer Tat ertappte, wie die zuständige Staatsanwaltschaft Hechingen (Zollernalbkreis) mitteilte. Die Bande soll seit November 2021 auch in Oberschwaben und im Schwarzwald ihr Unwesen getrieben haben, unter anderem in Sauldorf im Kreis Sigmaringen, in der Stadt Sigmaringen und in Titisee-Neustadt. Um die Geldautomaten aufzubrechen, benutzten die Täter jedoch hydraulische Spreizgeräte, wie sie die Feuerwehr bei Unfallwagen einsetzt. Auch Brecheisen, Spaltkeile und Schneidbrenner gelten bei den nächtlichen Raubzügen als Mittel der Wahl. Doch egal ob Sprengstoff oder Spreizgerät, der klassische Banküberfall mit vorgehaltener Waffe, verklärt und überhöht in zahllosen Filmstreifen, scheint dagegen ein Auslaufmodell zu sein. Das allerdings taugt nicht einmal als schwacher Trost.
„Die Täter flüchten in hoch motorisierten Fahrzeugen und mit extremer Rücksichtslosigkeit.“
Ludwig Waldinger vom Landeskriminalamt Bayern