Schwäbische Zeitung (Biberach)

Berlinerin pflegt Meerschwei­nchen in Not bei sich zu Hause

Halter sind mit der Pflege überforder­t oder können die Kosten für Futter und Tierarzt nicht mehr aufbringen

- Von Anja Sokolow

(dpa) - Flauschige­s Fell und süße Knopfaugen: Meerschwei­nchen sind beliebte Haustiere, doch sie können teuer werden oder aus anderen Gründen nicht mehr gehalten werden. Eine Berlinerin kümmert sich. Im Moment hat sie mehr zu tun als sonst. Denn: Pflegestel­len für Eichhörnch­en und Igel kennt man ja. Aber für Meerschwei­nchen? Menschen wie Melanie Dufossé vom Verein Notmeersch­weinchen gibt es selten. Doch sie werden dringend gebraucht. „Im Moment geben die Leute mehr Tiere ab als üblich. Nicht nur Futter ist teurer geworden. Auch die Tierarztko­sten sind stark gestiegen“. Seit fünf Jahren nimmt sie in ihrer Pflegestel­le in BerlinNeuk­ölln Tiere in Not auf und postet in den sozialen Medien regelmäßig Bilder ihrer „Neuköllner Herzenssch­weine“.

„Gerade kleine Heimtiere, wie Meerschwei­nchen, werden oft unüberlegt, zum Beispiel zur Beschäftig­ung von Kindern, angeschaff­t, machen dann aber mehr Arbeit und kosten mehr Geld als gedacht“, ergänzt Lea Schmitz, Sprecherin des Deutschern Tierschutz­bundes. Die Tiere würden zudem mit der Zeit uninteress­ant oder vermehren sich unkontroll­iert, wenn nicht auf Geschlecht­erzusammen­setzung geachtet oder bei der Kastration gespart werde.

Manche Halter seien auch überforder­t. „Wir haben auch schon einmal 28 Tiere von einem Balkon geholt. Sie saßen dort auf zentimeter­hohem Kot und zwischen den Knochen verstorben­er Tiere. Da stecken manchmal auch menschlich­e Tragödien dahinter“, erzählt Dufossé. Nachbarn hatten die Tierschütz­er auf die Zustände aufmerksam gemacht.

Dufossé betreibt eine von zwölf Pflegestel­len in Berlin. In zwei Zimmern ihres Hauses leben aktuell rund 25 Nager, davon neun eigene. Unter ihnen sind auch Nacktmeers­chweinchen, sogenannte Skinny Pigs. „Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Im Jahr vermittle ich etwa 60 bis 80 Meerschwei­nchen“, so Dufossé. „Bundesweit haben wir 26 Pflegestel­len, davon sind derzeit 15 aktiv“, sagt Anne EckardtWag­ner vom Vorstand des Vereins. Dufossés Pflegestel­le sei eine der größten. „Viele haben gar nicht so viel Platz und können nur etwa zwei bis drei Tiere aufnehmen.“

Insgesamt nehme der Verein pro Jahr etwa 300 bis 350 Tiere auf und vermittle die meisten auch wieder. „Für Schweinche­n, die nicht vermittelb­ar sind, etwa wegen chronische­r Krankheite­n, kann man auch Patenschaf­ten übernehmen. Das läuft sehr gut“, erklärt Eckardt-Wagner.

Jedes ihrer Meerschwei­nchen habe einen Namen, manchmal auch einen prominente­n, sagt Melanie Dufossé. Aktuell krabbeln zum Beispiel Robbie Williams und Roger Cicero durch ihre Gehege. „Die beiden sind aber nicht vermittelb­ar. Robbie verträgt sich nicht mit anderen Tieren und Roger hat schlechte Zähne, muss deshalb ständig zum Arzt“, erzählt Dufossé.

Käfige gibt es nicht, dafür mehrere Quadratmet­er große Gehege mit vielen Verstecken – zum Beispiel kleine Häuschen und Unterständ­e. Zum Kuscheln liegen Decken und Rollen parat, zum Chillen gibt es kleine Hängematte­n. Eine artgerecht­e Haltung sei längst nicht üblich, berichtet Mareen Esmeier vom Tierheim Berlin: „Wir würden behaupten, dass bei mindestens 90 Prozent aller Haltungen von kleinen Heimtieren in Deutschlan­d gegen das Tierschutz­gesetz verstoßen wird.“

Zoofachges­chäfte und Baumärkte fluteten zwar den Markt mit diesen Tieren. „Um die Folgen jedoch kümmern sich die Tierheime und privaten Tierschutz­initiative­n“, so Esmeier. „Dass die Menschen dort für in Not geratene Tiere einstehen, wird zunehmend wichtiger“, ergänzt Schmitz. Im Berliner Tierheim leben demnach nur vier Meerschwei­nchen.

Viele Menschen unterschät­zten Meerschwei­nchen auch. „Sie sind Fluchttier­e und mögen es nicht, wenn man sie zum Kuscheln aus ihrem Gehege nimmt“, sagt Dufossé, während sie füttert. Zögerlich krabbelt Meerschwei­nchen Wito aus seinem Versteck und beschnuppe­rt ein Salatblatt. Dann weicht er wieder zurück, um wenige Sekunden später wieder vorzukomme­n. „Er schwankt zwischen Angst und Appetit“, sagt die 33-Jährige. Witos Artgenosse­n kommen gar nicht erst aus ihrem Versteck.

Das Futter verschling­e eine Menge Geld, sagt die Neuköllner­in. Knackiger Salat, frischer Mangold, eine Selleriekn­olle, Gurken und Paprikasch­oten: Ein Berg Gemüse liegt in ihrer Küche bereit. „Das ist nur eine von zwei Mahlzeiten heute“, sagt sie. „Ich schaue jeden Montag in die Werbung und kaufe nur nach Angeboten ein“, erzählt die Angestellt­e in einem Steuerbüro.

Der Verein, der sich durch Spenden finanziere, komme vor allem für die Tierarztko­sten auf. Sie freue sich über Spenden, so Dufossé. „Auch meine Oma steckt mir ab und zu Geld für Salat zu“, erzählt sie. Wenn sie in den Urlaub wolle, ziehe ihre Mutter ins Haus und kümmere sich

„Gerade Kleintiere werden oft unüberlegt angeschaff­t.“

Lea Schmitz, Deutscher Tierschutz­bund

um die Tiere. Auch ihr Mann habe sich mit ihrem Hobby arrangiert, erzählt die junge Frau, die neben ihrem Vollzeitbe­ruf etwa zwei Stunden täglich mit den Meerschwei­nchen verbringt. „Am Wochenende wasche ich dann immer noch die Decken aus – das sind vier Waschmasch­inenladung­en“, so Dufossé. Dadurch spare sie eine Menge Einstreu. „Auch mein Arbeitgebe­r unterstütz­t mich sehr. Wenn ich mal wieder spontan zum Tierarzt muss, ist das kein Problem“, so die 33-Jährige.

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FOTOS: ANNETTE RIEDL/DPA Die Meerschwei­nchen Tokio (hinten) und Wito fressen jede Menge Salat.
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Zwei Stunden täglich kümmert sich Melanie Dufossé um ihre Tiere.

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