Schwäbische Zeitung (Biberach)
Eine Frage der Sensibilität
Letzte Woche ging es hier um den Bedeutungswandel in der Sprache. Wie komplex solche Prozesse ablaufen können, zeigt sich auch bei dem Wort alttestamentarisch. Schauen wir in „Die Buddenbrooks“von Thomas Mann. Da steht: „Was Direktor Wulicke persönlich betraf, so war er von der rätselhaften, zweideutigen, eigensinnigen und eifersüchtigen Schrecklichkeit des alttestamentarischen Gottes.“Als der Nobelpreisträger 1901 den Begriff alttestamentarisch zur Charakterisierung dieses „furchtbaren“Schulleiters einsetzte, könnten – mehr oder weniger bewusst – gewisse antijüdische Vorurteile im Spiel gewesen sein. Bemerkenswert ist, dass dieses mehrdeutige Wort bis heute im Sprachgebrauch weiterlebt.
Versuchen wir – in der hier gebotenen Kürze – seine komplizierte Geschichte etwas aufzudröseln. Bekanntlich gibt es das Alte Testament und das Neue Testament, und bei den Theologen spricht man von Alttestamentlern und Neutestamentlern. Dazu passen die Adjektive alttestamentlich und neutestamentlich. Weil das Wort Testament aber nicht nur den Bund Gottes mit dem Menschen in der Bibel bezeichnet, sondern auch eine letztwillige Verfügung, gibt es das dazugehörige
Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutungen und Schreibweisen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
Adjektiv testamentarisch – und das ist eigentlich nur auf den juristischen Sprachgebrauch beschränkt.
Aber warum kam das Wort alttestamentarisch überhaupt auf? Wahrscheinlich stammt es aus der Zeit der Diskussionen über die Judenemanzipation um 1800 und war zu Beginn in der Formulierung alttestamentarischen Glaubens durchaus positiv gemeint – in Abgrenzung zum Begriff jüdisch, den die Juden als diffamierend empfanden. Während des 19. Jahrhunderts bürgerte sich allerdings bei der christlichen Mehrheit eine abwertende Färbung des Wortes ein – ein Indiz für die Geringschätzung
von Juden, die angeblich nie über das archaische Alte Testament hinausgekommen waren.
Untersucht man das Umfeld, in dem alttestamentarisch von da an und bis heute gebraucht wird, so geht es vor allem um Rache, Strenge, Vergeltung, Zorn und Hass. Dabei schwingt mit, dass dem Gott des Alten Testaments zu Unrecht jede humane Regung abgesprochen wird – und damit auch den Juden. Die Verengung auf diese einseitige Bedeutungsschiene fand ihren Niederschlag auch in Nachschlagewerken. Im „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache“aus den 1970ern heißt es zu alttestamentarisch: „nach Art des Alten Testamentes“und als beredtes Beispiel folgt: „Racheakte von wahrhaft alttestamentarischer Furchtbarkeit“. Gebrandmarkt wurde der Begriff nicht. Dabei hätte man das durchaus erwarten können. „Die Völker wollen nicht mehr auf den Schlachtfeldern sterben, damit diese wurzellose internationale Rasse an den Geschäften des Krieges verdient und ihre alttestamentarische Rachsucht befriedigt“, brüllte Adolf Hitler 1939, was bis in heutige rechtsradikale Demos nachhallt. Aber diese Belastung sahen die Sprachhüter wohl nicht.
Nun wird dieses tendenziöse Wort bis heute oft auch in anderem Zusammenhang gebraucht – wenn es um einen literarischen Stoff geht, um das Sujet eines Gemäldes, um das Frauenbild in der Bibel … Da darf man aber zu einem Gutteil von Unwissenheit ausgehen, nicht von Absicht. Bei Begriffen wie Vergasung, Endlösung, Blut und Boden, innerer Reichsparteitag etc. funktionierte die Ächtung nach 1945. Alttestamentarisch blieb unter dieser Schwelle.
Der Duden hat inzwischen reagiert. Über Jahrzehnte wurde das Wort kommentarlos aufgeführt. Seit 2013 steht da: „oft abwertend“. Und in der neuesten Ausgabe von 2020 wird extra in einem gelben Kästchen darum gebeten, das Wort wegen seiner NS-Vergangenheit nicht unüberlegt einzusetzen. Aber riecht das nicht nach aktuell grassierender Hyperkorrektheit? Keineswegs, es ist eher ein Akt längst fälliger Sensibilität. Und die steht uns allen gut an.
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