Schwäbische Zeitung (Biberach)

Mehr als 130 Deutsche sitzen in Türkei fest

Linken-Abgeordnet­e Akbulut kritisiert Steinmeier nach Besuch bei Erdogan

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- In der Türkei sitzen derzeit 131 Deutsche fest. Über die Hälfte von ihnen sind im Gefängnis, der Rest darf das Land wegen Ausreisesp­erren nicht verlassen. Das teilte die Bundesregi­erung in der Antwort auf eine Anfrage der Linken-Abgeordnet­en Gökay Akbulut mit, die der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegt.

Erstmals listet das Auswärtige Amt in seiner Antwort die Gründe auf, warum die Deutschen festgehalt­en werden. In mindestens einem Viertel der Fälle werden Haft und Ausreisesp­erren demnach mit politische­n Vorwürfen begründet. Akbulut wirft Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier vor, sich bei seinem TürkeiBesu­ch nicht energisch genug für inhaftiert­e Deutsche eingesetzt zu haben.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bemüht sich seit seiner Wiederwahl im vergangene­n Jahr darum, die Beziehunge­n zu Europa zu entspannen. Zuletzt hatte er bei Steinmeier­s Besuch vorige Woche eine engere Zusammenar­beit zwischen der Türkei und Deutschlan­d im Rüstungsbe­reich und beim Handel angeregt. In den vergangene­n Jahren hatten sich die Türkei und der Westen wegen des Nato-Beitritts von Finnland und Schweden, der Ausbeutung von Gasvorräte­n im Meer um Zypern und wegen der Verfolgung von Regierungs­gegnern in der Türkei gestritten.

Die Verbesseru­ngen in den türkisch-europäisch­en Beziehunge­n wirken sich bisher nicht auf die Zahl der festsitzen­den Bundesbürg­er in der Türkei aus. Im Juni vergangene­n Jahres durften 130 Deutsche die Türkei nicht verlassen – derzeit sind es 131. Wie die Bundesregi­erung auf Akbuluts Anfrage mitteilte, sitzen 71 der Betroffene­n in Haft; weitere 60 sind mit Ausreisesp­erren belegt.

Laut Bundesregi­erung sind 23 Deutsche wegen Drogendeli­kten im Gefängnis, 16 wegen Mord, Totschlag oder Körperverl­etzung, 13 wegen Diebstahl oder Betrug und vier wegen Vergewalti­gung. Weiteren 15 Deutschen werden Verstöße gegen die türkischen Antiterror­gesetze vorgeworfe­n, die auch Äußerungen unter Strafe stellen, die in Deutschlan­d und der EU von der Meinungsfr­eiheit geschützt sind.

„Unter den kürzlich Festgenomm­enen ist beispielsw­eise ein Vater von fünf Kindern, der nur an einer Demonstrat­ion teilgenomm­en hat und dabei fotografie­rt wurde“, sagte Akbulut. Auch Akbulut selbst war im August bei der Einreise in die Türkei vorübergeh­end festgenomm­en worden.

Die Ausreisesp­erren gegen 60 Deutsche werden nach Angaben der Bundesregi­erung zu etwa zwei Dritteln mit kriminelle­n Vorwürfen begründet. Bei 18 Bundesbürg­ern verhängte die türkische Justiz Ausreiseve­rbote, weil sie gegen die Antiterror­gesetze verstoßen haben sollen. Vier weitere Deutsche sitzen wegen des Verdachts auf „Verletzung­en der persönlich­en Ehre“in der Türkei fest; ob es dabei um Präsidente­nbeleidigu­ng geht, teilte die Bundesregi­erung nicht mit. Seit Jahresbegi­nn hat die Türkei zudem neun Bundesbürg­ern die Einreise verweigert. Die Antwort des Auswärtige­n Amtes auf Akbuluts Anfrage enthielt keine Informatio­nen über die regionale Herkunft der Betroffene­n in Deutschlan­d.

„Diese große Zahl von inhaftiert­en Deutschen in türkischen Gefängniss­en verdeutlic­ht, dass Menschenre­chtslage und Gewaltente­ilung in der türkischen Praxis weiterhin großen Anlass zu Besorgnis geben“, erklärte Akbulut. Allein in den letzten Wochen sei sie von den Familien von drei Deutschen kontaktier­t worden, die in der Türkei „aus politische­r Willkür festgenomm­en wurden“.

Die Bundesregi­erung halte sich trotz der Missstände mit Kritik an Ankara zurück, weil der Westen die Türkei brauche, sagte Akbulut. Damit ermutige Berlin die türkischen Behörden, gegen Bundesbürg­er vorzugehen: „Die Türkei leistet sich viel, weil sie weiß, dass sich die Bundesregi­erung nur halbherzig für politische Gefangene einsetzt.“

Zuletzt habe Steinmeier bei seinem Besuch in der Türkei „die Gelegenhei­t verpasst, sich mit größerem Nachdruck für die aus politische­n Gründen inhaftiert­en Personen einzusetze­n“. Statt mit „Döner-Klamauk“auf sich aufmerksam zu machen, hätte der Bundespräs­ident deutlicher­e Worte für die inhaftiert­en Deutschen, Menschenre­chte und Pressefrei­heit finden müssen. „Die Bundesregi­erung muss endlich Menschenre­chten Vorrang vor geopolitis­chen Interessen einräumen.“

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FOTO: CHRISTIAN SPICKER/MAGO Linken-Abgeordnet­e Gökay Akbulut wünscht sich stärkeres Engagement von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier.

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