Schäferin am Scheideweg
Ruth Häckh aus Sontheim ist Wanderhirtin – Den Beruf wird es in einigen Jahre wohl nicht mehr geben
Schaf könnte man also auch sagen. Doch das nur am Rande.
Die Schäferin Ruth Häckh steht auf einer eingezäunten Obstbaumwiese in der Nähe von Sontheim/ Brenz. In einem dunklen Wollschäfermantel, mit Filzhut auf dem Kopf lehnt sie auf ihrem Stock und betrachtet ihre Tiere. Zirka 230 Mutterschafe und 150 Lämmer fressen und blöken lautstark, dabei wirken sie recht zufrieden. Es ist ein herrlicher Tag, sonnig, leicht windig, angenehm. Ein großer Schafbock gesellt sich dazu, rückt zentimeterweise näher, um sich schließlich den Kopf tätscheln zu lassen, was ihm angeblich nur durch Frauenhand gefällt. „So nehmen die meisten Menschen uns Schäfer wahr: gemütlich auf der Wiese stehend, nichts zu tun“, sagt Ruth Häckh. „Dass wir aber auch auf der Wiese stehen, wenn es regnet und kalt ist, dass wir sieben Tage die Woche draußen sind, auch wenn es für die Gesundheit gerade nicht zuträglich ist und das nur ein Teil der Arbeit ist, das sehen die wenigsten.“Genau das seien aber die Gründe, warum den Schäfern der Nachwuchs abhanden gekommen ist: kaum Freizeit, sehr wenige Urlaubstage, eine 70- bis 80-Stunden-Woche, dabei ein Verdienst weit unter dem Mindestlohn – laut Schafreport von 2011 knapp fünf Euro die Stunde.
Kaum Nachwuchs
In ganz Baden-Württemberg gibt es nur noch drei Schäfer-Lehrlinge. Die Schäferschule des Landes in Stuttgart-Hohenheim ist in diesem Schuljahr wegen zu geringer Schülerzahlen geschlossen worden. Wer künftig Schäfer werden will, muss in Sachsen-Anhalt oder in Bayern die Schulbank drücken. Auch die zwei erwachsenen Söhne von Ruth Häckh haben sich für andere Berufe ent- schieden. Ihre Mutter versteht das. „Die wollen einfach ihre Hobbys und Freundschaften pflegen, sie wollen Freizeit, Wochenenden und ein auskömmliches Gehalt haben. Das kann ich ihnen nicht verdenken“, sagt sie. In wenigen Jahren wird deshalb die Schäferei der Familie Häckh in Sontheim Geschichte sein – samt Schlachterei und Hofladen. Die schwere körperliche Arbeit fordert ihren Tribut.
15 Wanderschäfer im Südwesten
Aber jetzt wird es erst einmal spannend auf der Weide. Es herrscht höchste Konzentration: Ruth Häckh will mit ihren Schafen die Landstraße und ein wenig später die Bahnstrecke überqueren. Ihr Altdeutscher Hütehund Max, der mit seinen 14 Jahren noch läuft wie ein Wiesel und die Herde zusammenhält, hilft ihr dabei. Die Nummer des Fahrdienstleiters hat sie in ihrem Handy gespeichert, von ihm erfährt sie, wann der nächste Zug durchkommt und wann sie loslaufen kann. Alles klappt nach Plan, aber ein Verkehrshindernis ist die Schäferin und ihre Herde dennoch. Heute sind die Autofahrer geduldig. Sie scheinen sich an dem idyllisch wirkenden Bild – große Schafe und kleine Schafe auf dem Weg zur nächsten Obstbaumwiese – zu erfreuen. „Aber das ist nicht immer so, wenn es länger dauert, werden viele ganz schön ungeduldig“, sagt Ruth Häckh. Überhaupt: Die Zersiedelung der Landschaft und die intensive Nutzung von Flächen ist ein Riesenproblem für die Schäfer. Deshalb gibt es nach Angaben von Anette Wohlfarth, Geschäftsführerin des Landesschafzuchtverband Baden-Württemberg, nur noch maximal 15 Wanderschäfer im Südwesten.
„Mein Vater, der inzwischen über 80 ist, lief früher mit den Schafen auf die Winterweide an den Bodensee“, erzählt die Schäferin. Das funktioniere seit Jahren nicht mehr, weil unterwegs das Futter für die Schafe knapp werde. Jedes Stückchen Erde werde inzwischen intensiv für die Landwirtschaft oder den Obstanbau genutzt. „Man musste manchmal bis zu zehn Kilometer mit der Herde laufen, bis man eine Wiese gefunden hatte.“
Und paradoxerweise macht den Schafzüchtern, deren „herausragende Stellung in der Pflege und Erhaltung unserer Kulturlandschaft“auch von der grün-roten Landesregierung in einem „Leitfaden zur Schafhaltung“gerühmt wird, vor allem der Ausbau grüner Energien das Leben schwer. „Wer in Biogas macht, kann dank der Förderungen Pachtpreise zahlen, bei denen wir nicht mithalten könnten. Da ist schon eine sehr starke Flächenkonkurrenz da“, sagt Ruth Häckh. Deshalb hat sie sich dafür entschieden, ihre Herde zu reduzieren und mit ihr in der näheren Umgebung von Sontheim zu bleiben.
Susi, eine zehnjährige Altdeutsche Hütehündin vom Schlag Harzer Fuchs, hat jetzt ihren Einsatz. Sie ist dafür zuständig, Schafe, die beim Weiden auf einer Obstwiese der Straße zu nahe kommen, ins Grüne zurückzutreiben. Gerne lässt sie sich auch zweimal bitten, bevor sie ihren Auftrag erledigt. Sie ist eben ein bisschen bequemer als der hochmotivierte Max, der nun an der Leine tänzelt. Mit Tieren zu arbeiten, ihre Eigenheiten zu kennen und daran Freu- de zu haben, ist ein Grund, warum Ruth Häckh ihren Beruf trotz aller Mühen schätzt. Auf die Frage, ob man mal ein paar Schafe als Rasenmäher ausleihen könnte, sagt sie: „Niemals würde ich eines meiner Schäfchen jemandem anvertrauen, der sich nicht damit auskennt. Die jammern doch nicht, wenn ihnen etwas wehtut, die leiden leise, und das sehen Sie dann nicht.“
120 bis 150 Euro pro Schaf
In der Konsequenz heißt das für sie, selbst zu schlachten auf ihrem Hof in Sontheim. Einen Widerspruch sieht Ruth Häckh darin nicht. „Ja wäre es denn besser, wenn ich das Tier zum Schluss weggeben würde? Wenn es auf einem Lastwagen stehen und darauf warten müsste, bis es an der Reihe ist?“, fragt sie. Das findet sie genauso scheinheilig wie den Einwand, dass man doch kein Tier essen könne, das man kannte. „Wenn die Menschen sich anschauen würden, was Massentierhaltung bedeutet, bin ich nicht sicher, ob sie Fleisch dann noch genießen könnten“, sagt Ruth Häckh.
Ihre Lämmer, das ist ihr Einkommen. Niedlich sehen die kleinen Kerle aus, die ihren Müttern hinterherlaufen, sie in das Euter stoßen, um die Milchquelle möglichst üppig sprudeln zu lassen. Nach einem halben bis einem dreiviertel Jahr werden diejenigen, die nicht zur Zucht geeignet sind, geschlachtet oder verkauft. Das bringt 120 bis 150 Euro pro Tier. Eine andere betriebliche Ein- nahmequelle außer den staatlichen Prämien und der Förderung für Landschaftspflege haben die Schäfer hierzulande nicht. Die Wolle der Merinoschafe, einst heißbegehrt und hoch gehandelt, ist inzwischen nahezu zum Abfallprodukt verkommen. Zu groß ist die Konkurrenz durch billige Synthetikware. Für rund 50 Cent pro Kilogramm nimmt die schwäbische Wolle daher den weiten Weg nach China, um dort verarbeitet zu werden. Verdient ist mit diesem Preis nichts. „Da sind wir auf dem Weltmarkt angekommen“, sagt Ruth Häckh.
Natürliche Rasenmäher
Zum Vergleich: Im Jahr 1950 bekam der Schäfer 14 Mark pro Kilogramm. Inzwischen ist es lukrativer die Schafe als natürliche Rasenmäher für die Landschaftspflege einzusetzen, um einen bestimmten Bewuchs zu bewahren – Wacholderheiden, Magerrasen, bestimmte Orchideensorten. Auch darin sind die Schafe groß: Auf sehr natürliche Weise Pflanzensamen auszubringen.
Und was bringt die Zukunft den Schäfern in Baden-Württemberg? Ruth Häckh ist wenig optimistisch: „Welchen Schäfern, fragt sie?“Die meisten ihrer Kollegen sind zwischen 50 und 60 Jahre alt und hören in absehbarer Zeit auf. „Am Schluss bleiben vielleicht ein paar große Betriebe und ein paar Hobbyhalter übrig“, glaubt sie. Das jahrhundertealte Wissen um die Hütekultur werde mit den Schäfern aussterben und damit eines der ältesten Handwerke überhaupt. Traurige Aussichten auch für die Sontheimer Schafe, die so friedlich zupfen, blöken und ein bisschen wiederkäuen. Immerhin wissen sie nicht, was ihnen droht. So dumm ist es also auch wieder nicht, ein schlaues Schaf zu sein.