Stalins Mann in London
Der russische Diplomat Iwan Maiski und die Anti-Hitler-Koalition
Iwan Maiski war ein russischer Diplomat (1884-1975). Von 1932 bis 1945 war er sowjetischer Botschafter in England. Gabriel Gorodetsky, Historiker in Tel Aviv, hat dessen Tagebuch aus der Londoner Zeit herausgegeben: drei Bände, 15 Jahre Arbeit. Die deutsche Ausgabe umfasst nur einen Band, aber sie enthält auch den wissenschaftlichen Kommentar. Das ist klug gemacht. Gorodetsky kommentiert im Anschluss an die jeweiligen Notizen, wenn etwas geradezurücken ist.
Für britische Leser ist das Buch über die Vorkriegs- und Kriegsjahre natürlich besonders interessant. Aber nicht nur für sie. Nationalsozialismus und Stalinismus sind in unserer Vorstellung feste Blöcke, die den alten Demokratien gegenüberstanden. Wie flatterhaft die englische Position zeitweise war, kann man in Maiskis Tagebüchern nachlesen. Und wie massiv die Manipulation der öffentlichen Meinung durch die totalitären Staaten. Auch damals schon!
Zu den Qualitäten Maiskis gehört neben dem schreiberischen Talent – das Buch ist flott zu lesen – die Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen, ihre Persönlichkeit einzuschätzen und sie zu beeinflussen. Er vermittelte ihnen den Eindruck, er spräche als Privatperson zu Privatperson. Maiski hat sich ein Netzwerk von Personen aufgebaut, die man heute als Entscheider bezeichnen würde: Politiker, Vertreter der Wirtschaft, Künstler und Wissenschaftler, Menschen, deren Meinung gesellschaftlich relevant war. Und er war auf der Suche nach Informanten. Führende Journalisten in London mutierten nach einer Dose Kaviar zu Plaudertaschen, allzeit bereit, den Kurs ihrer Zeitung an Maiski auszurichten.
Das Netzwerk hat ihm „eine perfekte Rundumsicht verschafft“. Es aufzubauen, scheint ihm nicht schwergefallen zu sein, obwohl er es nicht leicht hatte. Für das Außenministerium war Maiski Staatsfeind Nummer 1. Bei den Bankern der Londoner City, an denen er besonders interessiert war, musste er als Vertreter der Sowjets Widerstände überwinden, die im politischen System lagen. Er schaffte es und verkehrte schulterklopfend mit ihnen.
Von seiner Person her war Maiski kein Beau, sondern klein und dick. Die Damen der höheren Gesellschaft, die von politischer Korrektheit noch keinen Begriff hatten, scheinen das Judentum an ihm geradezu erschnüffelt zu haben (der Vater war polnischer Jude). Sie fragten sich, was wohl britische Aristokraten empfänden, wenn sie nach dem hochgewachsenen deutschen Außenminister, dem „Nazistrolch Ribbentrop“, dem „hässlichen jüdischtartarischen Sowjetbotschafter“begegneten.
Beharrlich und charmant
Mittagessen, zu denen Maiski einlud, wurden wegen der angenehmen Konversationen geschätzt. Die Damen in Begleitung fallen mit Vorliebe über Einrichtung und Personal her: Die Küche ist Krankenhauskost, der Sherry korkt. Es gibt aber auch englische Politiker, die den KremlBotschafter mit einem ebenso wachen Blick wahrnahmen wie er sie. Einer schreibt ihm: „Wenn Sie von der Galerie im Parlament auf uns herabblickten, taten Sie es mit dem wohlwollenden Interesse eines Biologen, der das Verhalten von Molchen in einem Bassin untersucht.“
Eine andere Frage ist, wie sehr die Faszination, die von Maiski ausging, auch noch Gorodetsky, den Herausgeber des Tagebuchs, eingefangen hat. Der hält das Tagebuch zwar für ein Werk der Ruhmsucht, mit Blick auf die Nachwelt geschrieben. Aber „wie viel Spielraum Botschafter selbst unter Stalins brutal autoritärem Regime hatten, ist eine der erstaunlichsten Erkenntnisse aus Maiskis Tagebuch“, schreibt Gorodetsky. Und so zeichnet er ihn als Architekten der Allianz, die den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat: „Während seiner Glanzzeit in London, nach dem deutschen Überfall auf Russland, schmiedete er, während der Kreml in Schockstarre verharrte, das Bündnis gegen Hitler.“Wenn man den entsprechenden Passagen im Tagebuch Glauben schenkt, hat Maiski die Briten davon überzeugt, dass Russlands Außenpolitik keine Konfliktlinie zum britischen Imperium kenne, während die deutsche eine Konfrontationsfront sei. Damit hätte er ein Argument von 1914 aufgewärmt.
Maiski sah sich als Retter der Sowjetunion und der Menschheit. Dass diese Einschätzung in dem Buch so durchgereicht wird, dafür könnte eine Bemerkung im Vorwort die Erklärung liefern. Die Kooperation mit Archiv und Akademie in Russland, die Gorodetsky für die Edition nutzte, atmet, wie er schreibt, „noch immer eine gewisse amtliche Strenge und mündet in die Tendenz, die etablierte russische Deutung der Vorgänge aufrechtzuerhalten, die zum Zweiten Weltkrieg führten“.
Das Tagebuch selbst ist da reicher an Perspektiven. Maiski hatte in London seine liebe Not, die Säuberungen Stalins und dessen Kooperation mit Hitler wegzuhüsteln. Zeitweilig war er gesellschaftlich isoliert, der Verachtung ausgesetzt. Die englische Außenpolitik war im Wandel. Hätte der russische Winterkrieg 1939/40 gegen Finnland länger gedauert, wäre die Sowjetunion nicht Englands Partner, sondern Englands Gegner im Zweiten Weltkrieg geworden. Der „Diplomat im Kampf gegen Hitler“, wie der Untertitel heißt, war zuerst einmal ein Diplomat im Kampf für Stalins Sowjetunion.