Lulu im Lalaland
Schöne Bilder, schwache Regie: Frank Wedekinds Schauertragödie bei den Salzburger Festspielen
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SALZBURG - Starke Stücke über starke Frauen, von Künstlerinnen in Szene gesetzt – das ist die Idee für das Schauspielprogramm der Salzburger Festspiele. Wedekinds selten aufgeführte „Lulu“passt in dieses Konzept wie kaum ein anderes Drama, die griechisch-amerikanische Filmregisseurin Athina Rachel Tsangari auch. Das war’s aber schon. Die Inszenierung ist ästhetisch reizvoll und inhaltlich hohl: Designertheater.
Was hat die Regisseurin an diesem Stück interessiert? Einer Pressemitteilung der Salzburger Festspiele ist zu entnehmen, dass sich Tsangari im Rahmen eines DAAD Artist-inResidence-Programmes in Berlin auf die „Lulu“-Inszenierung vorbereiten konnte. Ist sie dabei nie in Berührung gekommen mit Ernst Blochs phänomenal luzider Interpretation der Figur Lulu? Mit der Entlarvung des Weiblichkeitsmythos? Mit der Tatsache, dass alle Bilder dieser Frau zwischen Heiliger und Hure männliche Projektionen sind?
Eine kontraproduktive Idee
Tsangari hat sich entschieden, die Rolle der Lulu auf drei Schauspielerinnen aufzuteilen. Diese einzig erkennbare Regie-Idee Tsangaris ist nicht nur plump, sondern kontraproduktiv. Lulu hat viele Identitäten, für jeden ihrer Liebhaber (und das sind nicht nur drei) verkörpert sie ein anderes Frauenbild. Für Dr. Goll (Rainer Bock) ist sie Nelli, das niedliche Mädchen, für den Künstler Schwarz (Maik Solbach) Eva, die Reine. Dr. Schöning (Steven Scharf) nennt sie Mignon und sein Sohn Alwa (Christian 112895) Katja (was bei Wedekind nicht vorkommt). Nur bei ihrem alten Vater (oder ersten Liebhaber) Schigolch ist und bleibt sie Lulu, die Kindfrau. „Alle Männer des Stückes haben ein Bild, das sie Lulu wie eine Maske überstülpen“, schreibt Bloch in „Das Prinzip Hoffnung“.
Die Dreiteilung macht sie nicht vielschichtig, sondern marginalisiert die Rolle. Anna Drexler, Isolda Dychauk und Ariane Labed skandieren im Chor. Gegenüber den Männern verblasst so die Figur der Lulu. Sie ist kein Gegenpart mehr, keine Bezugsperson. Die Regie unterläuft den Text und landet in der Denunziation. Die Lulus sind hübsches Beiwerk, Trophäen zuerst, Wegwerfware zuletzt. Das Selbstbewusstsein, das der Autor seiner Figur zubilligt, nimmt die Regie nicht wahr.
Der Text, an dem Wedekind von 1892 bis 1913 immer wieder gearbeitet hat, erscheint in dieser Inszenierung in einer Konstruktion, die keine Plausibilität hat. Die Salzburger Aufführung setzt auf Design und verschenkt den Inhalt. Die jungen Schauspielerinnen dürfen in aparten Kostümen (Beatrix von Pilgrim) ansprechende Drillingschoreografien vorführen. Das ergibt nette Bildwirkungen, etwa wenn die drei aus rosaroten Rüschenkokons schlüpfen oder wie Traumgestalten in durchsichtigen Gummibällen über die Bühne rollen. Für die Zuschauer ist der zweistündige Theaterabend vor allem eine Erfahrung bedrängender Langeweile.
Die „Lulu“ist Tsangaris erste Arbeit fürs Theater. Dass sie vom Film herkommt, ist ihrer Inszenierung anzumerken. Die Bühne der Pernerinsel (Peter Lösche) ist nur schwach erleuchtet, dunkle Ballons heben und senken sich, dienen als Sitzkissen oder als Projektionsfläche für Animationen von riesigen Pupillen und Gesichtern mit weit aufgerissenen Mündern. Ein Hauch von Expressionismus umweht die Auftritte von Fritzi Haberlandt als Gräfin Geschwitz. Wie im Stummfilm muss diese außergewöhnliche Schauspielerin agieren – prätentiös und exaltiert. Es sind die eindrucksvollsten Szenen. Ihr gehört der Schluss: Wenn Lulu von Jack the Ripper (den rätselhafterweise wiederum eine ihrer Doppelgängerinnen spielt) getötet wird, steht die Haberlandt mit aufgelöstem, grauem Haar daneben und formuliert ganz langsam und leise: „Ich liebe.“Es klingt wie ein Gebet.
Wedekinds „Lulu“ist ein Stück, das mit seiner Sicht auf die höhere Gesellschaft der Kaiserzeit für Skandale, Zensureingriff und Gerichtsurteile sorgte. Erst in den 1920er-Jahren konnten sich die Theater mit „Lulu“Aufführungen profilieren. Wer die Hauptfigur spielte, wurde zum Star. Der Facettenreichtum, mit dem Wedekind die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen zwischen Unschuld und Vamp, Hausfrau und Lustobjekt, Mutter und Hure entfaltet, ist beeindruckend, zumal ihm damals noch nicht das Vorlegebesteck der GenderTheoretikerinnen zur Verfügung stand. Dass einer Regisseurin zu einer solchen Vorlage rein gar nichts einfällt, ist die erstaunlichste Erfahrung an diesem Abend. Die Üppigkeit an Mitteln zur Ausstattung, die schönen Kostüme, der Aufgalopp wunderbarer Schauspielerinnen und Schauspieler: ein märchenhafter Aufwand für eine intellektuelle Nullstelle.
Weitere Aufführungen am 19., 20., 22., 24., 23., 27. und 28. August. Karten über www.salzburgfestival.at