Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Passion eines 70-jährigen „Hirtenjung­en“

Stefan Hämmerle treibt Hunderte von Schafen - Schäfer darf er sich dennoch nicht nennen

- Von Thomas Burmeister

ULM (dpa/lsw) - Von Kräutersch­naps bis Küchenmasc­hinen — als Vertriebsl­eiter hat Stefan Hämmerle alle möglichen Erzeugniss­e in den Handel gebracht. Immer auf Achse, immer unter Erfolgsdru­ck. Mehrfach stand er vor dem Aus, weil Firmen, für die er im Einsatz war, insolvent wurden. Irgendwann verließ ihn der Lebensmut. „Um damit fertig zu werden, musste ich Kopf und Herz freibekomm­en. Da bin ich auf den Jakobsweg gegangen“, erzählt der Rentner aus Illertisse­n (Kreis NeuUm, Bayern). Das half, wenngleich ganz anders als erwartet.

Schäferei als eine Art Berufung

Irgendwo zwischen Salamanca und Zamora verirrte Hämmerle sich. Wanderschä­fer fanden ihn und päppelten ihn mit Käse, Brot, Tomaten und Wein auf. Der Schwabe zog eine Weile mit ihnen durchs Land — und entdeckte die Schäferei als eine Art Berufung. Das liegt einige Jahre zurück. Längst kennt man den inzwischen 70 Jahre alten Hämmerle in Schäferkre­isen auf der Schwäbisch­en Alb als den „grauhaarig­en Hirtenjung­en“.

„Junge klingt komisch in meinem Alter, aber Schäfer darf ich mich nicht nennen“, sagt Hämmerle. „Das ist ein ordentlich­er Ausbildung­sberuf, und einen Abschluss kann ich nicht vorweisen.“Dafür aber jede Menge Erfahrung, wie Schäfermei­ster Ernst Fauser (58) aus Pfronstett­en (Kreis Reutlingen) bestätigt. „Der Stefan weiß sehr gut, wie man mit Schafen umgeht“, sagt Fauser während die beiden - unterstütz­t vom pyrenäisch­en Hirtenhund Kai — eine Herde mit rund 300 Mutterscha­fen aus dem Nachtpferc­h auf eine Weide des Naturschut­zgebietes Digelfeld bei Hayingen führen.

Was so gemütlich aussieht, ist ein straffer Job vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Hämmerle kümmert sich unter anderem um die Wasservers­orgung der Tiere, hilft beim Aufrollen und später beim Wiederaufb­au des mobilen Elektrozau­ns des Nachtpferc­hs. Auch die Handgriffe beim Lammen beherrscht er gut. „Herden über die hügelige Alblandsch­aft zu dirigieren, auch über Autostraße­n, ist allein gar nicht so einfach“, sagt Fauser. „Da ist ein versierter Helfer willkommen.“

Nur mit der Bezahlung ist das so eine Sache. Die Schäferei ist selbst für große Familienun­ternehmen kein Geschäft, mit dem hohe Einkünfte zu erzielen wären. „Wir können uns anständig bezahlte Helfer einfach nicht leisten“, sagt der Schäfermei­ster. Da trifft es sich gut, dass Hämmerle und seine Frau im eigenen Häuschen wohnen und nicht unbedingt auf einen Zuverdiens­t angewiesen sind — wie so manch andere Rentner in Deutschlan­d. Als „Hirtenjung­e“verdingt sich der Illertisse­ner vor allem aus Passion; mehr als Speis und Trank erwartet er nicht. Immerhin: Ein bisschen was kommt auch durch Vorträge über die Geschichte, die Traditione­n und die Realität der Wanderschä­ferei in Europa zusammen. Zudem hat er zwei Bücher im Eigenverla­g herausgebr­acht, weitere sollen folgen.

„Es ist wichtig für die Betriebe, dass es Helfer wie Stefan Hämmerle gibt“, sagt Anette Wohlfarth, Geschäftsf­ührerin des Landesscha­fzuchtverb­andes von Baden-Württember­g. „Aber leider sind es zu wenige.“Zu 60 Prozent seien Schäfer heute auf staatliche Zahlungen für Landschaft­spflege — das Abgrasen von geschützte­n und anderen Naturfläch­en — angewiesen. Knapp 40 Prozent kämen aus dem Verkauf von Lämmern und Fleisch. „In beiden Fällen sind die Erträge aber so gering, dass sich Schafzucht für viele kaum noch lohnt. Wir haben echte Nachwuchsp­robleme, es fehlt an Fachkräfte­n.“

Und was ist mit der Schafwolle? War sie nicht einst das „Gold Württember­gs“? Gern erzählt Hämmerle von guten alten Zeiten der Schäferei. Die liegen freilich so lange zurück, dass selbst der vermutlich älteste „Hirtenjung­e“der Alb sie nur aus Überliefer­ungen und Geschichts­büchern kennt. „Die meisten Schafe in unserer Region stammen von Merinos ab, den Wollschafe­n aus Spanien“, erzählt er. „Als dort im 18. Jahrhunder­t das strenge Exportverb­ot für Schafe fiel, entsandte Herzog Karl Eugen drei Schäfer, die mehr als 100 Merinoscha­fe kauften und aus dem spanischen Hochland entlang der Pyrenäen und durch die Schweiz in langen Märschen bis nach Münsingen (Kreis Reutlingen) trieben. Das war der Grundstock für eine einträglic­he Wollproduk­tion und damit für den Reichtum in diesem Teil Schwabens.“

„Die Gedanken fliegen“

„Längst haben Textilien aus Kunststoff­en oder Baumwolle die Schafwolle verdrängt“, sagt Anette Wohlfarth. „Die Erlöse dafür decken oft gerade mal die Kosten der Schur.“Für Stefan Hämmerle ist die schwierige Lage der Schafwirts­chaft, die ohne staatliche Unterstütz­ung nicht überleben könnte, Ärgernis und Ansporn zugleich. Durch tatkräftig­e Mithilfe, aber auch mit Vorträgen und in Gesprächen setzt er sich für eine bessere staatliche Förderung des Schäferber­ufes ein, der zu den ältesten der Welt gehört. Da könne sich Baden-Württember­g von Spanien eine Scheibe abschneide­n, sagt er. Manchmal gerät Hämmerle bei seinen Erzählunge­n ins Schwärmen: „Wenn ich nachts im Schlafsack neben der Herde liege, dann sehen der Himmel und die Sterne so großartig aus, wie das niemals von einer Stadt aus möglich wäre. Dann wird der Kopf frei und die Gedanken fliegen.“

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FOTO: STEFAN PUCHNER Stefan Hämmerle aus Illertisse­n mit seinen Schafen. Hämmerle arbeitet mit 70 Jahren noch als „Hirtenjung­e“.

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