Passion eines 70-jährigen „Hirtenjungen“
Stefan Hämmerle treibt Hunderte von Schafen - Schäfer darf er sich dennoch nicht nennen
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ULM (dpa/lsw) - Von Kräuterschnaps bis Küchenmaschinen — als Vertriebsleiter hat Stefan Hämmerle alle möglichen Erzeugnisse in den Handel gebracht. Immer auf Achse, immer unter Erfolgsdruck. Mehrfach stand er vor dem Aus, weil Firmen, für die er im Einsatz war, insolvent wurden. Irgendwann verließ ihn der Lebensmut. „Um damit fertig zu werden, musste ich Kopf und Herz freibekommen. Da bin ich auf den Jakobsweg gegangen“, erzählt der Rentner aus Illertissen (Kreis NeuUm, Bayern). Das half, wenngleich ganz anders als erwartet.
Schäferei als eine Art Berufung
Irgendwo zwischen Salamanca und Zamora verirrte Hämmerle sich. Wanderschäfer fanden ihn und päppelten ihn mit Käse, Brot, Tomaten und Wein auf. Der Schwabe zog eine Weile mit ihnen durchs Land — und entdeckte die Schäferei als eine Art Berufung. Das liegt einige Jahre zurück. Längst kennt man den inzwischen 70 Jahre alten Hämmerle in Schäferkreisen auf der Schwäbischen Alb als den „grauhaarigen Hirtenjungen“.
„Junge klingt komisch in meinem Alter, aber Schäfer darf ich mich nicht nennen“, sagt Hämmerle. „Das ist ein ordentlicher Ausbildungsberuf, und einen Abschluss kann ich nicht vorweisen.“Dafür aber jede Menge Erfahrung, wie Schäfermeister Ernst Fauser (58) aus Pfronstetten (Kreis Reutlingen) bestätigt. „Der Stefan weiß sehr gut, wie man mit Schafen umgeht“, sagt Fauser während die beiden - unterstützt vom pyrenäischen Hirtenhund Kai — eine Herde mit rund 300 Mutterschafen aus dem Nachtpferch auf eine Weide des Naturschutzgebietes Digelfeld bei Hayingen führen.
Was so gemütlich aussieht, ist ein straffer Job vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Hämmerle kümmert sich unter anderem um die Wasserversorgung der Tiere, hilft beim Aufrollen und später beim Wiederaufbau des mobilen Elektrozauns des Nachtpferchs. Auch die Handgriffe beim Lammen beherrscht er gut. „Herden über die hügelige Alblandschaft zu dirigieren, auch über Autostraßen, ist allein gar nicht so einfach“, sagt Fauser. „Da ist ein versierter Helfer willkommen.“
Nur mit der Bezahlung ist das so eine Sache. Die Schäferei ist selbst für große Familienunternehmen kein Geschäft, mit dem hohe Einkünfte zu erzielen wären. „Wir können uns anständig bezahlte Helfer einfach nicht leisten“, sagt der Schäfermeister. Da trifft es sich gut, dass Hämmerle und seine Frau im eigenen Häuschen wohnen und nicht unbedingt auf einen Zuverdienst angewiesen sind — wie so manch andere Rentner in Deutschland. Als „Hirtenjunge“verdingt sich der Illertissener vor allem aus Passion; mehr als Speis und Trank erwartet er nicht. Immerhin: Ein bisschen was kommt auch durch Vorträge über die Geschichte, die Traditionen und die Realität der Wanderschäferei in Europa zusammen. Zudem hat er zwei Bücher im Eigenverlag herausgebracht, weitere sollen folgen.
„Es ist wichtig für die Betriebe, dass es Helfer wie Stefan Hämmerle gibt“, sagt Anette Wohlfarth, Geschäftsführerin des Landesschafzuchtverbandes von Baden-Württemberg. „Aber leider sind es zu wenige.“Zu 60 Prozent seien Schäfer heute auf staatliche Zahlungen für Landschaftspflege — das Abgrasen von geschützten und anderen Naturflächen — angewiesen. Knapp 40 Prozent kämen aus dem Verkauf von Lämmern und Fleisch. „In beiden Fällen sind die Erträge aber so gering, dass sich Schafzucht für viele kaum noch lohnt. Wir haben echte Nachwuchsprobleme, es fehlt an Fachkräften.“
Und was ist mit der Schafwolle? War sie nicht einst das „Gold Württembergs“? Gern erzählt Hämmerle von guten alten Zeiten der Schäferei. Die liegen freilich so lange zurück, dass selbst der vermutlich älteste „Hirtenjunge“der Alb sie nur aus Überlieferungen und Geschichtsbüchern kennt. „Die meisten Schafe in unserer Region stammen von Merinos ab, den Wollschafen aus Spanien“, erzählt er. „Als dort im 18. Jahrhundert das strenge Exportverbot für Schafe fiel, entsandte Herzog Karl Eugen drei Schäfer, die mehr als 100 Merinoschafe kauften und aus dem spanischen Hochland entlang der Pyrenäen und durch die Schweiz in langen Märschen bis nach Münsingen (Kreis Reutlingen) trieben. Das war der Grundstock für eine einträgliche Wollproduktion und damit für den Reichtum in diesem Teil Schwabens.“
„Die Gedanken fliegen“
„Längst haben Textilien aus Kunststoffen oder Baumwolle die Schafwolle verdrängt“, sagt Anette Wohlfarth. „Die Erlöse dafür decken oft gerade mal die Kosten der Schur.“Für Stefan Hämmerle ist die schwierige Lage der Schafwirtschaft, die ohne staatliche Unterstützung nicht überleben könnte, Ärgernis und Ansporn zugleich. Durch tatkräftige Mithilfe, aber auch mit Vorträgen und in Gesprächen setzt er sich für eine bessere staatliche Förderung des Schäferberufes ein, der zu den ältesten der Welt gehört. Da könne sich Baden-Württemberg von Spanien eine Scheibe abschneiden, sagt er. Manchmal gerät Hämmerle bei seinen Erzählungen ins Schwärmen: „Wenn ich nachts im Schlafsack neben der Herde liege, dann sehen der Himmel und die Sterne so großartig aus, wie das niemals von einer Stadt aus möglich wäre. Dann wird der Kopf frei und die Gedanken fliegen.“