Auszeit im Land der tausend Seen
Wasser und Wald, Adler und Bär – Die Mecklenburgische Seenplatte ist ein Refugium für Naturfreunde
D● er Weg ins Paradies ist ziemlich holprig und eigentlich darf man auch gar nicht mit dem Auto hinfahren. Wir haben eine Ausnahmegenehmigung, denn der einzige Bewohner erwartet uns schon. Er heißt nicht etwa Adam, sondern Roman und ist Naturfotograf. Sein Häuschen liegt mitten im Unesco-Weltnaturerbe, in den alten Buchenwäldern Serrahn. Kilometerlang führt der Weg immer tiefer in den Wald, der immer wilder wird, bis sich eine Lichtung auftut und Roman Vitts renoviertes Waldbauernhaus in Sicht kommt. Wäre es ein Knusperhäuschen gewesen, es hätte einen auch nicht besonders gewundert.
Märchenhaft ist hier so einiges, das zeigen schon die eindrucksvollen Fotografien, die Roman Vitt in einer alten Scheune ausstellt. Kraniche im Flug, die Buchenwälder im zauberhaften Morgenlicht, vorwitzige Waschbären. Heute fotografiert er alles, was direkt vor seiner Haustür kreucht und fleucht, blüht und gedeiht. Vor ein paar Jahren hat er seinen stressigen Job als Mode- und Kosmetikfotograf aufgegeben und ist in die Mecklenburger Wald-Einsamkeit gezogen, in den Müritz-Nationalpark. Der rotblonde Hüne wirkt wie einer, der seinen Platz in der Welt gefunden hat. „Ich bin hier gar nicht allein“, meint Roman Vitt in bester Stimmung an diesem Sommermorgen, an dem die Sonne gerade beginnt, den Tau und die Kühle aus dem Wald zu vertreiben. Manchmal gibt er Kurse für Hobbyfotografen und zeigt Besuchern, wie großartig sein wild-schönes Reich ist.
Geduld ist hier die wichtigste Tugend, denn seine Models entscheiden selbst, wann sie sich zeigen. Sei es der mächtige Seeadler oder eine wilde Füchsin, die ihm ab und zu einen Besuch abstattet. Aber das macht für Vitt den Reiz aus: Zeit haben, im Rhythmus der Natur leben und in der pechschwarzen Nacht in die Sterne gucken, die hier natürlich auch heller strahlen als anderswo. Dieses Glück teilt der gebürtige Westfale ab und zu auch mit Feriengästen, die er in einem Nebengebäude beherbergt. Berlin ist nur eine gute Autostunde entfernt, und so sind es oft auch gestresste Großstädter, die, von so viel tiefer Stille und geballter Naturerfahrung überwältigt, nach zwei Wochen tiefenentspannt und mitunter sehr nachdenklich wieder abreisen. Er aber bleibt: „Ich will hier nicht mehr weg.“So wie Roman Vitt geht es so manchem, der die Wälder und Seen – es sollen sogar mehr als tausend sein – Mecklenburgs erlebt. Sie wollen nicht mehr weg. So geht es ganz sicher auch Siggi, Balou, Tapsi, Mascha und den anderen dickfelligen Bewohnern in einem anderen Waldgebiet in der Nähe der Müritz, dem größten und bekanntesten Gewässer der Seenplatte. 17 Bären leben hier in einem weitläufigen, 16 Hektar großen Gelände, dem Bärenwald Müritz.
Alles, was sich Bären wünschen
„Die Tiere hätten sich auch selber hier angesiedelt“, meint Gisela Hentschel, die uns auf dem Rundgang begleitet. Denn es ist alles da, was Bären wünschen: genug Platz, tiefes Dickicht, Erde, in der sie graben können, Höhlen, in die sie sich zurückziehen können, Tümpel zum Baden. Meist sind es zwei oder drei Tiere, die sich ein abgezäuntes Areal von zwei bis drei Hektar Wald teilen. Hier haben sie es so schön wie noch nie in ihrem Leben. „Manche Bären spüren hier zum ersten Mal Waldboden unter den Tatzen“, sagt die ehrenamtliche Bärenfreundin, die sich für das Tierschutzprojekt der Organisation Vier Pfoten engagiert. Denn alle Tiere stammen aus schlechter Haltung, sind gezeichnet von einem Leben in Käfigen, in Tierparks oder auf Rummelplätzen, was für die scheuen Tiere ein oft lebenslanges Martyrium bedeutet.
Es ist daher nicht sicher, ob und wie viele Bären man zu Gesicht bekommt. Sie werden nicht ausgestellt, sie dürfen sich verstecken, Schaufütterungen gibt es nicht. Aber wir haben Glück: „Da drüben ist Otto!“, ruft Gisela Hentschel, und tatsächlich, der stattliche Braunbär tapst vorsichtig aus dem Unterholz, wohl um zu sehen, was für bunte Zweibeiner da wieder herumschleichen. Auch Siggi und Balou, Vater und Sohn, sind auf den Beinen. Schnüffelnd und brummend treffen sie sich mit Mary aus dem Nachbargehege am Zaun. Und Michal, der aus Polen stammt und im Kampf ein Vorderbein verloren hat, schaut mal eben nach, ob nicht doch etwas Futter in seinem roten Ball versteckt ist, wie so oft. Sie alle sind an Menschen gewöhnt, eine Auswilderung kommt daher nicht infrage. Es ist eher eine Art betreutes Wohnen im Wald, eine Sommerfrische für den Rest ihres Lebens.
Die hügelige Landschaft mit ihren vielen Seen und Wäldern lockt aber nicht nur Urlauber und „Einwanderer“an, auch die Mecklenburger wissen ihre schöne Heimat zu schätzen, auch wenn’s manchmal ganz schön stressig werden kann. Dann trägt Fährmann Tom gern sein T-Shirt mit dem frohgemuten Motto „Ich brauche keinen Arzt, ich habe Humor“. Letzteren braucht er gelegentlich auch, denn hier am Schmalen Luzin kann’s manchen nicht schnell genug gehen. Ungeduldige Radler wollen herüber, müde Wanderer hinüber, und das am liebsten mit der alten Handzug-Seilfähre, wie früher. Um damit über das fjordartige Gewässer in der Feldberger Seenlandschaft überzusetzen, braucht es aber nicht nur Humor, sondern auch Muskelkraft und Zeit. Deshalb nimmt Tom auch ganz gern mal seine schnelle Solarfähre, wenn die Leute am anderen Ufer winken. Dabei kann man hier eigentlich schon ein bisschen verweilen, nach einer Wanderung auf dem Hullerbusch beispielsweise, jenem Höhenrücken zwischen den Seen, wo Schafe weiden und wilder Thymian wächst und duftet.
Es sind keine spektakulären Attraktionen, die hier warten, aber manchmal braucht es für Erholung vom Alltag ja auch nicht mehr, als mit einem Eistütchen oder einem Pott Kaffee am Wasser zu sitzen, ein paar Kanufahrern nachzuschauen und mit etwas Glück einen Fischadler kreisen zu sehen.