Britische Firmen mit Brexit-Sorgen
Die Brexit-Sorgen der britischen Wirtschaft verhallen bei den Mächtigen in London
LONDON (ank) - Die britische Wirtschaft blickt mit immer größeren Sorgen auf die stockenden BrexitVerhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich. „Ein Stillstand der Brexit-Gespräche in einer so wichtigen Phase ist für die Unternehmen in Großbritannien zutiefst besorgniserregend“, sagte Carolyn Fairbairn, die Chefin des britischen Äquivalents zum Deutschen Industrie- und Handelstags im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“.
●
● LONDON/EDINBURGH - Mit einem eindringlichen Appell hat sich am vergangenen Donnerstag Carolyn Fairbairn an die Öffentlichkeit gewandt: „Ein Stillstand der Brexit-Gespräche in einer so wichtigen Phase ist für die Unternehmen in Großbritannien und dem Rest Europas zutiefst besorgniserregend.“Spätestens bis Jahresende müsse die finale Phase der Gespräche über die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU eingeleitet werden, sagte die Chefin der einflussreichen Confederation of British Industry (CBI), die die Interessen von rund 190 000 Unternehmen der gewerblichen Wirtschaft auf der Insel vertritt.
Kein Fahrplan
Die Zeit drängt: Denn 15 Monate nachdem sich die Briten für einen EU-Austritt entschieden haben und sechs Monate nachdem Premierministerin Theresa May die Scheidungsunterlagen nach Artikel 50 des EU-Vertrags eingereicht hat, gibt es noch immer keinen Fahrplan. Harter Brexit (Austritt aus EU, Binnenmarkt und Zollunion), weicher Brexit (Austritt aus EU, Zugang zu Binnenmarkt und Zollunion), Übergangsphase – jedes Szenario ist denkbar.
Das ist Gift für die Wirtschaft, die nichts so sehr hasst wie Unsicherheit. Während Unternehmensvertreter und Wirtschaftsverbände in Deutschland seit Monaten lautstark auf die Gefahren eines (harten) Brexits hinweisen, war die britische Wirtschaft lange Zeit ruhig. Die Vorstellung, dass Großbritannien, traditionell ein Hort des Freihandels, diese Prinzipien über Bord werfen würde, hatte in den Chefetagen britischer Firmen keine Anhänger. Die relative Sorglosigkeit bekam erste Risse, als Theresa May zu Beginn dieses Jahres ankündigte, dass kein Deal mit Brüssel besser sei als ein schlechter Deal.
Inzwischen schlagen Wirtschaftsvertreter auf der Insel Alarm. Bis zum Jahresende müsse endlich ein Plan her, heißt es, sonst werde die Umsetzungszeit bis März 2019 zu knapp. Dann nämlich wäre im schlimmsten Fall Schluss mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die noch garantiert, dass jeder Unionsbürger unter den gleichen Voraussetzungen auf der Insel arbeiten kann wie ein Brite. Doch ohne den unbürokratischen Zuzug von Arbeitskräften stünde die britische Wirtschaft vor dem Kollaps. „Das Potenzial auf der Insel ist schlicht nicht vorhanden. Die Unternehmen müssen Fachkräfte importieren, sind auf Zuwanderung angewiesen“, sagt Ulrich Hoppe, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer in London. Und dann wäre womöglich auch Schluss mit dem freien Zugang zum EU-Binnenmarkt, der es ermöglicht, Waren und Dienstleistungen ohne Zollschranken auszutauschen.
Allein: Die Rufe der britischen Wirtschaft werden in Westminster und Downing Street, den beiden Schaltzentralen im politischen London, kaum vernommen. „Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexits sind den Briten egal. Es ist von Anfang an ein politisches Spiel“, heißt es aus diplomatischen Kreisen in London hinter vorgehaltener
Hand. Die Wirtschaft, sagen die „Brexiteers“, werde mit den Auswirkungen schon zurechtkommen. Und überhaupt habe sich von den ökonomischen Horrorszenarien bislang nichts bewahrheitet. Die Konjunktur läuft – wenn auch mit gebremstem Schwung – und der Schwächeanfall des britischen Pfundes hat dem Exportsektor sogar Auftrieb gegeben.
Ausweichbewegungen
Doch dieser kurzfristigen Argumentation können inzwischen immer weniger Unternehmer auf der Insel etwas abgewinnen – zumal sich erste Konsequenzen der britischen Planlosigkeit zeigen. Beispiel eins: die Industrie. Die hat zwar längst nicht den Stellenwert wie etwa in Deutschland. Doch ist Großbritannien gerade in der Automobilindustrie ein wichtiger Standort, eingebunden in die weltweiten Lieferketten. „In diesen Lieferketten wird mit Gewinnmargen von drei bis vier Prozent gearbeitet“, sagt Frank Neumann von der deutschen Botschaft in London. „Käme es zu Einfuhrzöllen im Handel mit der EU, die bei Fahrzeugteilen und -komponenten bei durchschnittlich drei Prozent liegen, wäre die Profitabilität dahin.“
Schon jetzt reagiert die kontinentaleuropäische Wirtschaft klammheimlich auf diese Möglichkeit – auch wenn es noch gar keine Zölle, noch keine Handelsbeschränkungen und noch keine Bürokratie an der Grenze gibt. Spediteure berichten von einbrechenden Frachtraten im Geschäft mit Großbritannien, denn etliche Firmen suchen sich bereits neue Abnehmer und Zulieferer – etwa in Osteuropa. Die Wirtschaft nimmt den Brexit quasi vorweg.
Beispiel zwei: Banken und Versicherungen. London gilt als weltweit wichtigster Finanzplatz. Der mächtige Finanzsektor könnte im Fall eines harten Brexits an Strahlkraft verlieren. Dann nämlich würde für Banken und Finanzdienstleister der sogenannte EU-Pass wegfallen, mit dem die Institute London als Eingangstor für Geschäfte in der ganzen EU nutzen können. Großbritannien würde aus Sicht der EU zu einem Drittland, Geschäfte wären nicht mehr ohne Weiteres möglich. Die Liste der Banken, die vorsorglich Personal aus London abziehen und an kontinentaleuropäischen Finanzplätzen wie Frankfurt und Paris aufbauen, wird täglich länger. Schätzungen zufolge sind zehn Prozent der rund 700 000 Bankarbeitsplätze in London in Gefahr.
Britischer Pragmatismus
„Würden der EU-Pass und der aktuelle Status als Niederlassung wegfallen, wir also eine Vollbanklizenz beantragen müssen, stünde unser Geschäftsmodell unter Umständen infrage“, sagt Matthias Heuser von der LBBW in London. Dann nämlich müsste die LBBW das Geschäft in London mit deutlich mehr Eigenkapital unterlegen als bislang. Das Institut begleitet von der britischen Metropole aus deutsche Unternehmen auf der Insel, ist aber auch im Immobiliengeschäft tätig und entwickelt Finanzprodukte für Privatanleger und institutionelle Investoren. Heuser hofft auf pragmatische Lösungen der britischen Politik.
Auf diesen Pragmatismus setzt auch Johannes Haas, Generalmanager der DZ Bank, dem Spitzeninstitut der deutschen Volks- und Raiffeisenbanken, in London. Der Banker beobachtet zwar, dass deutsche Mittelständler im Vorgriff auf den Brexit verstärkt Niederlassungen in Großbritannien gründen, um im Falle eines Falles weiter Geschäfte auf der Insel machen zu können. Auch würden Großunternehmen ihre Investitionspläne auf Eis legen. „Doch echte Absetzbewegungen aus Großbritannien gibt es keine. Dazu ist der Markt zu groß und zu interessant“, sagt Haas, der eher an einen harten als an einen weichen Brexit glaubt.
„Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexits sind den Briten egal.“Diplomatische Kreise in London
Kein zweites Referendum
Mögen in Deutschland noch immer viele hoffen, dass sich die Briten den EU-Austritt noch einmal überlegen und erneut darüber abstimmen. Im Königreich glaubt daran keiner mehr: „Die Parteien werden den Wählerwillen umsetzen“, ist sich Hoppe von der Deutsch-Britischen Industrieund Handelskammer sicher. Das sieht auch Francis Grove-White so, Chef von Open Britain, einer Organisation, die für Europa und einen weichen Brexit kämpft. „Ein zweites Referendum wird es nicht geben.“
Unternehmen und Bürger werden sich – in welcher Form auch immer – mit einem Brexit also arrangieren müssen. Das ist vielleicht auch das kleinere Problem. Langfristig viel schwerer dürfte die damit verbundene Verschiebung der geopolitischen Kräfteverhältnisse wirken. Europa und die EU, vor allem aber Großbritannien, die sich beide rechtsstaatlichen Prinzipien und fairem Wettbewerb verschrieben haben, werden im globalen Miteinander der Mächte geschwächt. Auch innerhalb Europas wird es Verschiebungen geben: Traditionell stehen die Briten für Freihandel und Marktwirtschaft. In der EU war das Königreich zusammen mit Deutschland und den Niederlanden ein Korrektiv zu den zum Staatsinterventionismus neigenden Südländern. Dieses Korrektiv fällt künftig schwächer aus.