„Das hat mit Wissenschaft nur wenig zu tun“
Ulrich Schraml von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt zu den Thesen des Försters und Bestsellerautors Peter Wohlleben
Er ist nicht nur der Oberförster der Nation, sondern auch Dauergast in deutschen Bestsellerlisten: Peter Wohllebens Bücher, in denen er vom Wald und seinen Bewohnern erzählt, werden von Millionen Menschen begeistert verschlungen. „Das geheime Leben der Bäume“beispielsweise wurde inzwischen in 40 Sprachen übersetzt und in Kanada gar zum „Sachbuch des Jahres“gekürt. Dennoch ist der studierte Forstwirtschaftler nicht unumstritten: Nicht nur viele Waldbesitzer mit ökonomischen Interessen stören sich an seiner Vermenschlichung der Bäume, auch Forstwissenschaftler melden erhebliche Zweifel an den Thesen von Wohlleben an. Dirk Uhlenbruch hat darüber mit Ulrich Schraml gesprochen, der als Professor die Abteilung „Wald und Gesellschaft“an der Forstlichen Versuchsund Forschungsanstalt Baden-Württemberg in Freiburg leitet.
Wie begeistert haben Sie „Das geheime Leben der Bäume“eigentlich gelesen?
In manchen Passagen neidvoll, weil ich ein Faible für einen eloquenten Umgang mit Sprache habe. Da gibt es Bilder, die finde ich richtig toll – etwa wenn es um die Waldameisen geht, die „an der Nadel hängen“. Das ist nah an der Realität, da diese Tiere an Nadelbäume gebunden sind. Respekt für diese Ideen! Aber dann gibt es leider auch Passagen, bei denen einem das schiere Grausen kommt. Fröhlich-frech werden Thesen als wissenschaftlich fundiert präsentiert, obwohl sie es ganz und gar nicht sind.
Peter Wohlleben attestiert den Bäumen immer wieder menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften: Sie lernen, schreien, hören, stillen ihre Babys und pflegen untereinander Freundschaften. Sind das nicht nur faszinierende Bilder, um komplizierte Sachverhalte anschaulich zu erklären?
Bleiben wir beim Beispiel der Freundschaften. Natürlich ist es richtig, dass Bäume nicht allein im Wald stehen, dass sie Kontakt zu anderen Bäumen haben. Sie können über Wurzeln miteinander verbunden sein, Wasser und Nährstoffe austauschen, Botenstoffe ausscheiden und so kommunizieren. Spannend ist jedoch die Frage, ob der Begriff Freundschaft dafür der richtige ist. Menschen gehen schließlich davon aus, dass Freundschaft auf Gegenseitigkeit angelegt ist, bewusst und vielleicht sogar mit einem bestimmten Ziel gepflegt wird. In diesem Sinne sind Bäume natürlich keine Freunde. Das ist übrigens ein typisches Muster in der Argumentationsweise von Peter Wohlleben: Im Kern stecken wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, die durch eine menschliche Metapher erklärt werden. Genau diese Bilder bergen aber regelmäßig das Risiko, dass der Leser sie viel weitergehender interpretiert, als es durch Studien gedeckt ist. Das hat mit Wissenschaft nur wenig zu tun.
Gilt das auch für das beschriebene Schmerzempfinden von Bäumen?
Betrachten wir das unter evolutionären Gesichtspunkten. Die Frage ist doch: Was hätte ein Baum davon, wenn er Schmerzen empfindet? Menschen und Tiere haben einen unmittelbaren Nutzen, sie können ausweichen und lernen, sich anders zu verhalten. Der Baum ist der Sonne, Blitzen und Insekten ausgesetzt, ist mit Wurzeln zwischen Steinen eingeklemmt und wird dort mechanisch bewegt. Alle arbeiten sich an ihm ab, ohne dass er weglaufen könnte. Welchen Sinn hätte also der Schmerz? Das ist für mich ein starkes Argument, daran zu zweifeln, dass es so etwas gibt. Oder, um auch einmal blumig zu werden: So grausam kann die Natur nicht sein, den Baum massiven Schmerzen auszusetzen, wenn diese ihm nicht weiterhelfen.
Also kein Bewusstsein, keine Art zentrales Nervensystem bei Bäumen?
Dafür gibt es wirklich keine Belege.
Gehören dementsprechend auch die „intelligenten“Pilze ins Reich der Fabel?
Auch hier ist der Begriff Intelligenz der falsche. Er löst irreführende Assoziationen aus. Wenn da stünde, es ist faszinierend, was Pilze alles können, und es ist erstaunlich, wie wenig das bislang ins Bewusstsein der Menschen eingedrungen ist, dann wäre ich ganz bei Herrn Wohlleben. Ich finde das auch eindrucksvoll.
In dem Buch steckt die Forderung nach einer – analog zu Tieren – artgerechten Baumhaltung. Teilen Sie diese ethische Einschätzung?
Das schießt weit übers Ziel hinaus. Bei vernünftiger Würdigung kommt man zu dem Ergebnis, dass es eine Reihe von Unterschieden gibt zwischen Tier und Baum – angefangen bei der Zellwand über den Körperaufbau bis hin zu den Organen und der Interaktion. Da müssen wir einen deutlichen Trennstrich ziehen und Tiere anders behandeln als Bäume. Deswegen müssen aber noch längst nicht alle Dämme im Wald brechen.
Wohlleben ist kein Freund menschlicher Eingriffe in das Ökosystem Wald. Naturbelassener, von Buchen beherrschter Urwald entspricht viel eher seinem Ideal. Er fürchtet zudem, im Wirtschaftswald gerate die fürs Klima so wichtige Funktion als KohlendioxidSpeicher unter die Räder. Ein ernst zu nehmendes Szenario?
Da tobt ein Gelehrtenstreit. Die Frage ist, wie wir das Gesamtsystem abgrenzen. Betrachten wir den Wald isoliert, dann ist es wohl richtig, dass in einem dunklen Urwald mit dicken Bäumen und durchfeuchteten Böden mehr Kohlenstoff gespeichert ist als in einem Wirtschaftswald mit dünneren Stämmen und sonnigeren Flächen. Wenn ich aber einen Schritt weiterdenke und einkalkuliere, dass in einem bewirtschafteten Wald alle fünf Jahre Holz entnommen werden kann, das anschließend verbaut wird, dann habe ich einen zweiten Kohlenstoffspeicher. Gleichzeitig schont die Verbrennung des nachhaltigen Energieträgers Holz Öl- und Gasressourcen und wirkt sich somit positiv auf die Kohlenstoffbilanz aus. Diese Betrachtungsweise erscheint mir wesentlich lebensnäher. Im Gegensatz zu Herrn Wohlleben komme ich daher zu einer Überlegenheit der bewirtschafteten Wälder.
Wäre ein solcher Urwald denn nicht der Traum der modernen Freizeitgesellschaft, die Abwechslung vom digitalen Alltag sucht?
Untersuchungen zeigen: Die Erwartungen der meisten Menschen an einen attraktiven Erholungswald sind heute noch weitgehend deckungsgleich mit jenen, die sich in der Romantik ausgebildet haben. Die Wälder waren zu dieser Zeit schwer heruntergewirtschaftet, einzelne starke Bäume waren ebenso zu entdecken wie Lichtungen mit plätschernden Quellen. Insgesamt konnte man frei von jedweder Enge recht weit in die Ferne schauen. Diese Szenerie kann zufällig auch in einem Urwald entstehen, wenn etwa der Borkenkäfer zugebissen oder ein Sturm Bäume umgeworfen hat. Systematisch geschieht das nicht. Wenn wir wollen, dass Menschen vor den Toren einer Stadt attraktive Erholungswälder finden, dann müssen wir diese bewirtschaften und pflegen.
Ist es denn nicht das Verdienst der Bücher von Peter Wohlleben, die Menschen überhaupt für diese Thematik sensibilisiert zu haben?
Er beackert dieses Feld ja nicht ganz allein. Das ist eine tolle, lobenswerte Entwicklung. Das Verdienst endet aber dort, wo ein Autor selbstbewusst behauptet „Ich weiß, wie Bäume funktionieren“– auch wenn die Wissenschaft das ganz anders sieht.
Schwingt da nicht auch gekränkte Eitelkeit einiger Wissenschaftler mit, deren Bücher es nicht in die Bestsellerlisten geschafft haben?
Ich würde da eher von Ratlosigkeit sprechen.
Ist das moderne Märchen vom Wald tatsächlich so verwerflich – von einem Wald, der im Prinzip funktioniert wie die menschliche Gesellschaft, nur schöner, freundschaftlicher, solidarischer? Der Baum als Vorbild für Menschen?
Schwierig, das Verhältnis zwischen Schaden und Nutzen eines Textes zu bestimmen. Wer das Buch liest, lernt sehr viel über Herrn Wohlleben und gesellschaftliche Bedürfnisse und leider nur relativ wenig über Bäume. Allerdings setzen sich jetzt erfreulicherweise viele Menschen mit dem Wald auseinander. Wenn das Buch allerdings verwendet wird, um politische Forderungen im Sinne einer artgerechten Baumhaltung abzuleiten und das dann wissenschaftlich begründet wird, fängt der Schaden an. Für eine Diskussion über Nutzung und Schutz der Wälder ist das Buch nicht die richtige Quelle.