Trulla, trulla, trullala ...
Die Südbahn Ulm-Friedrichshafen-Lindau und die Allgäubahn München-Lindau werden elektrifiziert – Am Freitag starten die Bauarbeiten
Seit 1850 verkehrt die vielbesungene schwäbsche Eisebahne (Foto: imago). Am Freitag erfolgt nun in Niederbiegen (Kreis Ravensburg) der erste Spatenstich für die Elektrifizierung der Südbahn von Ulm über Friedrichshafen nach Lindau. Bis 2021 soll die Strecke fertig sein. Ebenfalls morgen geht es auch bei der Allgäubahn von München nach Lindau los. Diese Trasse soll Ende 2020 unter Strom stehen.
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RAVENSBURG - Aus ihrem Wohnzimmer blickt Petra Bitsch auf mehr als 150 Jahre Eisenbahngeschichte. Nicht nur, weil direkt vor ihrem Haus die im Jahr 1850 von den Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen vollendete Südbahn-Trasse entlangführt. Sondern auch, weil dort eine Skulpturengruppe an das Volkslied von der „Schwäbschen Eisebahne“erinnert.
Petra Bitsch wohnt mit ihrer Familie im Bahnhof Durlesbach, der in diesem Lied eine Rolle spielt: Die schwäbsche Eisebahne dringt auf der Südbahn-Strecke „Schtuegert, Ulm und Biberach / Meckebeure, Durlesbach“immer tiefer ins ländliche Oberschwaben vor. In eine Welt, in der ein Bäurle seine Geiß vor der Abfahrt an den Zug bindet und sich später, als er bemerkt, dass dies dem Tier nicht gut bekommen ist, beim Konduktör beschwert, die Bummelbahn sei zu schnell gefahren.
Durlesbach, das zu Bad Waldsee (Kreis Ravensburg) gehört, liegt idyllisch zwischen Wäldern in einem Einödtal. Die Moderne scheint weit entfernt – noch. Demnächst beginnen hier die Bauarbeiten für die Elektrifizierung der Südbahn. „Ich kann mir das noch gar nicht richtig vorstellen“, sagt Petra Bitsch dazu. „Ein bisschen schade finde ich das schon, wenn hier bald Strommasten stehen.“Außerdem sorgt sie sich etwas vor möglichem Elektrosmog. Andererseits: „Jetzt haben wir ständig den Diesel im Haus, das merke ich beim Putzen. Das ist auch nicht so toll.“
Mit dem Dieselruß im Wohnzimmer ist es bald vorbei. An diesem Freitagnachmittag findet bei Niederbiegen, südlich von Durlesbach, der erste Spatenstich für das Modernisierungvorhaben statt. Bis Ende 2021 soll die Trasse unter Strom stehen. Aus der Sicht von Verkehrsplanern gleicht das einem Sprung vom 19. ins
21. Jahrhundert. Zumal am selben Tag in Memmingen ein weiterer Spatenstich gefeiert wird: Auch die Allgäubahn, die von Lindau über Memmingen in Richtung München führt, wird elektrifiziert. Bislang gibt es dort nur zwischen München und Geltendorf (Kreis Landsberg) Strom, so weit, wie die Züge der Münchner S-Bahn nach Westen rollen. Ab dort gilt für das Allgäu dasselbe wie hinter Ulm für Oberschwaben: Wer weiterfahren will, muss in die langsameren Dieselzüge umsteigen.
Allgäubahn erhält Neigetechnik
Zwischen den Metropolen München und Zürich brauchen Reisende derzeit viereinhalb Stunden. Nach dem Ausbau der Allgäubahn soll es eine Stunde weniger sein – auch, weil die Strecke, vor allem zwischen Memmingen und Lindau, zeitgleich für den Einsatz von Neigetechnik ausgebaut wird. So werden die Züge in Kurven schneller. Die Technik gilt zwar als fehleranfällig – erst kürzlich musste die DB sie aus Sicherheitsgründen auf mehreren Strecken abschalten. Doch der Konzern glaubt an die Zukunft der Neigezüge – ebenso wie die Schweizer Kollegen von der SBB, die den Fernverkehr auf der Allgäubahn mit ihren Fahrzeugen bestreiten werden. Auch am Bau beteiligt sich die Schweiz mit einem Darlehen von 50 Millionen Euro. 2009 haben sich Bahn, Bund, der Freistaat Bayern und die Schweiz auf die Finanzierung des Projekts geeinigt. Dass die Modernisierung dringend nötig ist, da sind sich alle einig: Die Infrastruktur entspreche dem Stand „von vor 50 Jahren“, heißt es von der Bahn.
Viele Versprechen zur Südbahn
Ebenfalls mehr als ein halbes Jahrhundert wartet man entlang der Südbahn auf Strom (siehe Schlagzeilen links). Wilfried Franke, Verbandsdirektor des Regionalverbands Bodensee-Oberschwaben und Vorsitzender des Interessenverbands Südbahn, hat seit dem Beginn seiner beruflichen Laufbahn mit dem Projekt zu tun: „Ich produziere seit 1982 Akten dazu“, sagt Franke. „Aber Jahrzehnte wurde geschwätzt, und es ist nie ein konkreter Ansatz draus erwachsen.“
Dabei haben Politiker immer wieder frohe Kunde gebracht, dass es nun aber wirklich bald losgehe: Der CDU-Landtagsfraktionschef und spätere Ministerpräsident Erwin Teufel versprach schon für 1989 Strom. Im September 1998 kündigte der damalige Verkehrsminister Hermann Schaufler (CDU) den ersten Spatenstich noch während seiner Amtszeit an. Die Karriere des Ministers endete allerdings schon wenige Wochen später, weil er seinem SSV Reutlingen mit zweckentfremdetem Geld unter die Arme gegriffen hatte – bis zum Südbahn-Spatenstich sollte es zu diesem Zeitpunkt noch zwei Jahrzehnte dauern.
„Da steckte nirgends böser Wille dahinter“, sagt zu den vielfachen nicht eingehaltenen Versprechen Rudolf Köberle (CDU), 2005 bis 2010 als Staatssekretär für die Verkehrspolitik im Land zuständig. Die Planungen seien halt aufwändiger und langsamer gewesen als von Fachleuten vermutet. „Es wird immer gefragt: Was kostet es? Und wann ist es fertig? Eigentlich sollte man dazu gar nichts mehr sagen“, findet Köberle. Und der frühere Weingartener SPD-Bundestagsabgeordnete Rudolf Bindig, langjähriges Mitglied im Verkehrsausschuss, stellt fest, dass der Bahnkonzern nur ein überschaubares Interesse an dem Projekt hatte. Er berichtet von einem Besuch beim damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn im Berliner Bahn-Tower. „Mehdorn meinte, er hätte anderes zu tun, er sagte, ,Ich kann mich nicht um jedes einzelne Projekt jedes Abgeordneten kümmern‘“, erinnert sich Bindig.
Bloß keine Provinz-Trasse
Bindig berichtet, ebenso wie Köberle, dass die Schwaben in Berlin hart darum kämpfen mussten, dass die Südbahn dort nicht als Provinz-Trasse unter ,ferner liefen‘ eingeordnet wird. Aus der schwäbschen Eisebahne musste deswegen die „Internationale Zulaufstrecke Österreich/ Schweiz“werden.
Dass es nun doch noch klappt mit dem Strom, dafür gibt es nach Ansicht aller Beteiligten einen entscheidenden Faktor: Den Druck – und das Geld – aus der Region. 2006 schlossen sich die Landkreise, Kommunen und die Industrie- und Handelskammern entlang der Südbahn-Trasse zum Interessenverband Südbahn zusammen, eine treibende Kraft war der damalige Ravensburger Oberbürgermeister Hermann Vogler (CDU).
Gemeinsam legten die Oberschwaben Geld auf den Tisch: 1,4 Millionen Euro für die ersten Planungen. Ein hohes Risiko, wie sich Interessenverbands-Direktor Franke erinnert. „Wir waren nicht zuständig, es bestand die große Gefahr, dass wir das Geld aus dem Fenster schmeißen.“Denn eigentlich ist für den Ausbau der Schienenwege der Bund zuständig – nur, dass der eben nichts voranbrachte. Auch nicht, als die nächsten Planungsschritte anstanden. Da sprang das Land in die Bresche. Verkehrs-Staatssekretär Köberle, selbst Oberschwabe, brachte 2009 zu einem Treffen im Ravensburger Rathaus aus Stuttgart die Zusage mit, dass das Land die weiteren Planungskosten übernehmen würde, letztlich zwölf Millionen Euro. Wenige Jahre zuvor hatte Ministerpräsident Teufel auf der Oberschwabenschau erstmals in Aussicht gestellt, dass das Land einspringen könnte, wenn der Bund nicht vorankommt. „Ein Tabubruch“, erinnert sich Köberle.
Ein zweiter Tabubruch folgte mit dem Finanzierungsabkommen von 2015. Das Land, mittlerweile grün-rot regiert, verpflichtete sich, die Hälfte der Baukosten – 112,5 Millionen Euro – zu übernehmen. „Dieses Entgegenkommen“, ist Wilfried Franke vom Interessenverband Südbahn überzeugt, „hat den Bund bewogen, die Südbahn als vordringliches Projekt in den Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen“– also in die Liste jener Bauvorhaben, die bald umgesetzt werden sollen. Erst da war klar: Nach 50 Jahren des Wartens kommt wirklich Strom auf die Südbahn.
Und wofür? Ziel ist nicht ein Zeitgewinn von ein paar Minuten oder auch – im Fall der Allgäubahn – von einer Stunde. Ziel ist, dass Züge besser getaktet werden, mehr und umsteigefreie Verbindungen möglich sind. Der gleiche Grund, aus dem unter dem Titel Stuttgart 21 der Bahnknoten der Landeshauptstadt neu sortiert wird und aus dem in Lindau auf dem Festland ein Durchgangsbahnhof entsteht, der durchgehenden Zügen das Einfahren in den Kopfbahnhof auf der Lindauer Insel ersparen soll. Das Umspannen von E- auf Dieselloks in Ulm wird überflüssig. Auch die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm steht in diesem Zusammenhang: Über sie wird ein Teil der Südbahn-Züge nach Stuttgart rollen, im Wechsel mit der bisherigen Filstalbahn wird so ein Stundentakt von Oberschwaben nach Stuttgart möglich. Mit Dieselzügen wäre das nicht denkbar – von der feinstaubgeplagten Luft im Stuttgarter Talkessel einmal ganz abgesehen.
Petra Bitsch, die Bewohnerin des Durlesbacher Bahnhofs, hat sich mit dem Fortschritt vor ihrer Haustür abgefunden. Schließlich, so erzählt sie, habe es hier schon immer Veränderungen gegeben. Erst war Durlesbach der Ausstieg für die Reisenden nach Bad Waldsee, später wurde hier Holz verladen, bis auch diese Funktion aufgegeben und der Bahnhof Ziel für Ausflügler wurde. „Jetzt“, sagt Petra Bitsch, „kommt halt der nächste Schritt in die Moderne.“