Reisen zur Seelenruhe
In den Gärten der Normandie kann der Mensch innehalten und durchatmen
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adame geht nie durch ihren Garten, ohne hier eine welke Klematis abzuzupfen, da ein verrutschtes Zweiglein hochzubinden. „Ich habe immer eine Schere und Blumendraht dabei“, schmunzelt Annie Blanchais. Die Erde an ihren Händen ist wie ein Zeichen der Verbundenheit mit dem, was wächst und ihr Wohlbefinden schützt. Vor 20 Jahren hat die ehemalige Tänzerin angefangen, ein 2500 Quadratmeter großes Grundstück rund um ihr verwunschenes Haus in dem Kurort Bagnoles-de-l’Orne nach eigener Eingebung zu gestalten. Seit 2011 empfängt sie Besucher in ihrem „Jardin retiré“, dem zurückgezogenen Garten. Und sie ist nicht die einzige. In über 120 grünen Paradiesen in der Normandie kann der Urlauber seine Seelenruhe finden.
Trubel in Giverny
Wer sich selbst um einen Garten kümmert, der muss zu Hause bleiben und will es genau so. „Ich verreise nicht mehr“, verrät Annie vergnügt und wirft ihren langen blonden Zopf über die Schulter. Sieben bis 14 Stunden täglich arbeitet sie in ihrem Refugium, folgt unermüdlich den romantisch verborgenen Wegen, die blauen Turnschuhe sind von feuchtem Gras durchweicht. Ihre Welt findet sie hier, zwischen englischen Rosen, Hortensien namens „Hamburg“und dem seltenen Tibet-Baum.
Auch Claude Monet (1840-1926), der allseits vergötterte Impressionist, erkannte die Vielfalt im Gleichen, nachdem er 1883 bei einem Spaziergang in Giverny für sich und seine Familie ein elegantes Landhaus mit Garten entdeckt hatte und den langen Rest seines Lebens mit eigenen Händen buddelte und pflanzte. Jenseits der Straße legte er den berühmten Seerosenteich an, den er wieder und wieder malte, weil das Licht auf dem Wasser immer neue Bilder schuf. Das kann man auch heute noch ahnen, wenngleich der Rummel in Monets Garten – im letzten Jahr kamen über 630 000 Besucher – die Stille ruiniert hat.
Neun Kilometer entfernt, in Vernon, ist genug Luft zum Atmen. Im 20 Hektar großen Park des Château de Bizy, wo Isabelle, die 86-jährige Tochter des fünften Herzogs von Albufera, noch heute in einem Seitenflügel lebt, kann man stundenlang durch alte Alleen wandern und ein bisschen melancholisch die verlassenen Stallungen, bemoosten Brunnen und bröseligen Reliefs betrachten. Einst galt das Schloss als das normannische Versailles, und die von 150 Dienern betreuten Herrschaften genossen hier die Geselligkeit. Nach der Revolution wurden die Skulpturen am Rand der Wasserspiele abgeschlagen, heute fehlt es an Geld für Investitionen. Doch die Natur, unbeeindruckt von den Zeitläufen, blüht majestätisch fort.
Das gilt auch für das Château von Acquigny, dem Sitz der Familie d‘Esneval seit 360 Jahren. Gebaut wurde es schon im 16. Jahrhundert zur Feier der Liebe von Anne de Montmorency und ihrem Ehemann Louis de Silly. Deren Initialen und das wiederholte Relief zweier verschlungener Hände an der Fassade zeugen noch heute von einer großen Amour. Agnes d‘Esneval, eine grauhaarige Frau mit festem Schuhwerk und Strickjacke, ist eher der pragmatische Typ. Sie führt die Gäste selbst durch das 16 Hektar weite Gelände. Man sieht noch aus der Ferne das Schloss in berückender Schönheit vor den grünen Hügeln liegen. Dann wandert man weiter, am Fluss entlang, wo die Blätter der Platanen in einer Brise flüstern, entdeckt die Heilkräuter, die der junge Gärtner der d’Esnevals mit handgeschriebenen Schildern versehen hat, und genießt das Konzert der Vögel und den Duft der Zitronenbäumchen.
Naturnah und urwüchsig
Wer sich Zeit lässt und gemächlich über schmale Straßen von einem Ort zum anderen fährt, den belohnt das normannische Gartenleben mit Freude jenseits hektischer Städte und Attraktionen. Wir fahren zwei Stunden weiter nach Sées, wo wir uns in einer zünftigen Taverne au Normandy zwischen lauter Einheimischen mit gewaltigen Portionen von Muscheln und fett gefüllten Pfannkuchen, sogenannten Galettes, stärken. Danach geht es zur Ferme Ornée in Carrouges. Der 15 Hektar große Garten ist so etwas wie der grüne Hafen des weitgereisten Abenteurers und Fachbuchautors Jean-Pierre Morby. Aus Prinzip düngt Morby nur mit Pferdemist, er benutzt keine Pestizide und lehnt eine aufwändige Bewässerung ab. Die normannische Natur, hat er festgestellt, lässt viele Arten von Blumen, Hecken und Farnen ganz von selber wachsen.
Kunst im Garten
Dominique und Benoît Delomez hingegen, ein Künstlerpaar, haben ihren „Jardin Intérieur à Ciel Ouvert“, den Innengarten unter freiem Himmel, auf der ehemaligen Mülldeponie von Athis angelegt und mussten erst einmal 50 Lkw-Ladungen frischer Erde aufschütten lassen, um etwas zauberhaftes Neues zu schaffen. Nicht nur Pflanzen sind hier zu entdecken, sondern auch Installationen und Skulpturen, die sich diskret einfügen in das Ensemble. Ein gläserner Kubus mit verspiegelter Ecke verschiebt die Perspektiven, ein ausgehöhlter Bambushain wirkt wie ein kleiner Tempel, aus einem abgestorbenen Baum wurde ein „Insektenhotel“. Die Kunst verneigt sich vor der Natur. Und am Ende des kleinen Spaziergangs kann man noch in aller Ruhe den Karpfen im Teich zusehen.
Eine ganz andere Dimension hat das Château von Brécy, wenige Kilometer von der Küste bei Bayeux. „Monsieur est dans le jardin“, Monsieur ist im Garten, teilt ein Bediensteter den Besuchern mit. Aber was heißt hier jardin? Der weltgewandte Pariser Unternehmer Didier Wirth, Präsident der französischen Stiftung Parks und Gärten, und seine vor einigen Jahren verstorbene Ehefrau Barbara haben das um 1700 entstandene Lustschlösschen mit romanischer Kapelle und französischen Terrassenanlagen 1992 gekauft und in ein spektakuläres Anwesen verwandelt. Alle Hecken und Bäume, akkurat beschnitten, werden hier einem herrschaftlichen Gestaltungswillen unterworfen. Ganz oben weist ein schmiedeeisernes Tor in den Himmel, aber dahinter geht es weiter. 130 Hektar umfasst der Besitz mittlerweile, Monsieur wollte sich die Umgebung nicht zubauen lassen.