Die Spur führt auch in den Südwesten
Straßburg-Attentäter auch in Konstanz im Gefängnis – Tat wohl islamistisch motiviert
STRASSBURG/STUTTGART - Am Tag nach dem Anschlag in Straßburg mit drei Toten und zwölf Verletzten ist der Täter weiter auf der Flucht. Französische und deutsche Ermittler, auch in Baden-Württemberg und Bayern, fahndeten am Mittwoch unter Hochdruck nach dem mutmaßlichen Islamisten Chérif C. (Foto: dpa), der nach Angaben von Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) auch in Deutschland bereits im Gefängnis war. Der 29-Jährige habe in Konstanz und Singen ab Juni 2016 wegen Einbruchsdelikten eine Haftstrafe abgesessen. „Er wurde im Februar 2017 aus der Haft abgeschoben. Gleichzeitig wurde gegen ihn ein zehnjähriges Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Bundesrepublik Deutschland verhängt“, sagte Strobl.
C. hat nach Angaben der Pariser Terrorstaatsanwaltschaft ein langes Vorstrafenregister: Er wurde 27-mal in Frankreich, Deutschland und der Schweiz verurteilt. Seine Tat am Mittwoch war wohl islamistisch motiviert. Der Angreifer rief nach Angaben von Zeugen „Allahu Akbar“(Gott ist groß), wie Staatsanwalt Rémy Heitz in Straßburg erklärte. Laut Heitz eröffnete C. am Dienstagabend gegen 19.50 Uhr mit einer automatischen Pistole das Feuer nahe des Straßburger Münsters, wo der Weihnachtsmarkt stattfindet. Er sei dann durch die Fußgängerzone gelaufen und habe Menschen beschossen und mit einem Messer angegriffen. Zwei Personen, unter ihnen ein thailändischer Tourist, wurden getötet, ein drittes Opfer wurde später für hirntot erklärt. Strobl sagte in Stuttgart: „Wir müssen Stand heute von einem feigen Attentat ausgehen.“
Die Suche nach dem Franzosen mit nordafrikanischen Wurzeln lief am Mittwoch auf Hochtouren, die Ermittler baten die Bevölkerung in einem öffentlichen Fahndungsaufruf um Mithilfe. Hunderte Beamte waren nicht nur in Straßburg und Umgebung, sondern auch im Süden Deutschlands im Einsatz. Die Sicherheitsmaßnahmen entlang der deutsch-französischen Grenze wurden verschärft. Dass der Gesuchte über die Grenze geflohen ist, könne nicht gänzlich ausgeschlossen werden. „Seit der Nacht laufen in BadenWürttemberg bei den regionalen Polizeipräsidien und beim Landeskriminalamt Maßnahmen zur Fahndung und Überwachung. Es waren 70 Beamte der Landespolizei im Einsatz“, erklärte Innenminister Strobl. Auch in Bayern und Rheinland-Pfalz sowie im Saarland wurde gefahndet.
Der Terroranschlag entfachte auch in Deutschland die Debatte über Sicherheitsrisiken auf Weihnachtsmärkten aufs Neue. „Grundsätzlich kann man sagen, dass wir eine abstrakte Gefährdungslage schon seit Jahren haben, nicht erst seit dem Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz und jetzt in Straßburg“, stellten unisono die Sprecher der Polizeipräsidien in Konstanz und Kempten auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“fest. Jede Veranstaltung – vom Fußballspiel bis zum Weihnachtsmarkt – werde sehr genau in Abstimmung mit dem Veranstalter und der Kommune betrachtet. „Wir können bislang verneinen, dass eine konkrete Gefahr auf unseren Weihnachtsmärkten besteht“, sagte Bernd Schmidt vom Polizeipräsidium Konstanz – und die Kemptener Kollegen erklärten: „Wir raten nicht ab, auf solche Veranstaltungen zu gehen.“
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STRASSBURG - Wenn mittags die Glocken des Münsters läuten, versammeln sich die Touristen vor dem Portal, um zu dem Turm aus rotem Stein hinaufzuschauen. So auch am Mittwoch, einen Tag nach dem islamistischen Anschlag mitten in der Altstadt. Zehn Minuten läuten die Glocken an diesem Tag zum Zeichen der Trauer, doch es sind nur einige wenige, die zwischen den geschlossenen Holzbuden des Weihnachtsmarktes stehen und zuhören. So wie Susan und Bill Emerson aus dem USBundesstaat Maine, die für einen Tag nach Straßburg gekommen sind. Die beiden Endfünfziger wirken verloren vor der geschlossenen Kathedrale. „Niveau urgences attentat“steht auf dem Bildschirm vor dem Eingang. „So etwas passiert auch bei uns in den USA“, sagt Bill zu dem Terrorangriff mit drei Toten. Einen Stadtrundgang will er mit seiner Frau trotzdem machen: „Life must go on.“
Das ist auch das Motto der Geschäftsfrau Mireille Oster, die das ganze Jahr über im Touristenviertel Petite France den Lebkuchenladen Pain d’Epices betreibt. Am Dienstagabend verkaufte die energische Oster auf dem Weihnachtsmarkt an der Place Broglie ihre Lebkuchen, als sie kurz vor 20 Uhr Schüsse hörte. „Dann sah ich, wie die Menschen wegrannten.“Was Mireille Oster zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Der 29-jährige Chérif C. hatte rund 200 Meter weiter in der Rue des Orfèvres um sich geschossen, bevor er seinen tödlichen Weg Richtung Petite France fortsetzte, wo die Touristen sich kurz vor Schließung des Weihnachtsmarktes noch um die Stände drängten. Drei Tote und 13 Verletzte, darunter sechs Schwerverwundete, hinterließ der Islamist auf seinem Weg, auf dem er mehrfach um sich schoss und mit dem Messer auf Passanten einstach.
Mit einem Taxi geflohen
Der in Straßburg geborene Attentäter schoss auch auf vier Soldaten der Anti-Terror-Operation Sentinelle, die das Feuer erwiderten und ihn am Arm verletzten. Um zu fliehen, zwang Chérif C. einen Taxifahrer, ihn in das Straßburger Problemviertel Neuhof zu fahren. „Der Mann hat auf der Fahrt die Taten gestanden“, sagt der Staatsanwalt von Paris, Rémy Heitz, bei einer Pressekonferenz. Der Fahrer konnte auch die Verletzung des 29-Jährigen erkennen. Chérif C., der laut Augenzeugen „Allahu Akbar“rief, ist der Polizei in Deutschland und Frankreich gut bekannt. 27-mal wurde er wegen Diebstahls und Gewalttaten verurteilt. Ein Jahr seiner Haft saß er in Deutschland ab, bevor er 2017 nach Frankreich ausgeliefert wurde. Im Gefängnis ging er den Weg vieler anderer Attentäter: Er wurde streng religiös und versuchte, seinen Glauben auf radikale Art und Weise an seine Mitinsassen zu verbreiten. Er trägt wie rund 10 000 andere in Frankreich den Sicherheitsvermerk S und stand laut Heitz unter Beobachtung des Inlandsgeheimdienstes.
Am Dienstagmorgen hatte die Polizei ihn festnehmen wollen, ihn aber nicht aufgefunden und stattdessen seine Wohnung durchsucht. Dort fanden die Beamten eine Granate, eine geladene Schusswaffe samt Munition sowie vier Messer. Am Mittwochnachmittag war der 29-Jährige weiter auf der Flucht. Mehr als 700 Polizisten und zwei Hubschrauber suchten in der Stadt und der Umgebung nach ihm. An den Grenzübergängen nach Deutschland wurden Kontrollen eingeführt. Dem Staatssekretär im Innenministerium, Laurent Nuñez, zufolge könnte der Täter auch nach Deutschland geflohen sein. Wegen der Terrorgefahr blieben in Straßburg die Museen und Theater geschlossen, die Grundschulen sagten den Unterricht ab. „Es wird empfohlen, die Kinder zu Hause zu lassen“, stand auf einem Zettel an der Gittertür der Schule Saint Thomas, die am Eingang zu Petite France liegt.
In den engen Gassen des Touristenviertels hatten am Dienstagabend Hunderte Einwohner und Touristen stundenlang in den Kellern von Restaurants festgesessen, bis die Polizei für sie Entwarnung gab. „Es herrschte eine gute Solidarität“, berichtet eine Restaurantbesucherin hinterher. Am Mittwoch blieben die Läden und Spezialitätenrestaurants der Petite France leer. „Viele Gruppen haben ihre bereits gebuchten Stadtführungen abgesagt“, sagt Nadia Boes vom Tourismusbüro an der Place de la Cathédrale. Andere Touristen verkürzen nach dem Anschlag ihren Aufenthalt in Straßburg. „Die Leute hier sind betroffen.“Auf dem KléberPlatz, wo der große, mit bunten Lichtern geschmückte Weihnachtsbaum steht, legen Passanten Blumen nieder und zünden Kerzen an.
EU-Sitzung fortgesetzt
Die wenigen Touristen, die trotz allem am Mittwoch in die Altstadt gekommen sind, zeigen wenig Angst. „Wir finden es nur schade, dass wir den Weihnachtsmarkt nicht erleben können“, sagen die Mitglieder einer Reisegruppe aus Recklinghausen. „Hoffentlich kommen wir wenigstens zu unserem angemeldeten Besuch ins Europaparlament hinein.“Die EU-Vertretung mit ihren mehr als 700 Abgeordneten tagt diese Woche in Straßburg. Nach dem Anschlag wurde das Parlamentsgebäude, das außerhalb der Stadt liegt, abgeriegelt. Parlamentspräsident Antonio Tajani entschied aber, dass die Sitzung fortgesetzt wird.
Der Straßburger Weihnachtsmarkt, der jedes Jahr rund zwei Millionen Menschen anzieht, lebt seit dem Jahr 2000 mit der Bedrohung. Damals vereitelten deutsche Fahnder mit ihren Festnahmen den Anschlag einer Frankfurter Terrorzelle, die mit einem zum Sprengsatz umgebauten Schnellkochtopf ein Blutbad anrichten wollte. Nach den Anschlägen von Paris 2015 hatte sich die Stadtverwaltung entschieden, den 450 Jahren alten „Christkindelsmärik“trotzdem abzuhalten. Die Altstadt wird seither abgeriegelt, und an den Zugangsstellen sind Taschenkontrollen eingerichtet.
Auch am Dienstagabend kontrollierten Sicherheitsleute die Besucher der Innenstadt. Der Attentäter konnte aber trotzdem mit einer Schusswaffe und einem Messer ins Zentrum gelangen. Noch in der Nacht kündigte Innenminister Christophe Castaner, der nach Straßburg kam, die höchste Terrorwarnstufe Urgence Attentat an. Der Staatsanwalt von Paris bestätigte, dass es sich bei den tödlichen Angriffen um einen Terroranschlag handelte. „Der Terrorismus hat wieder zugeschlagen“, sagte Heitz. Er ordnete Ermittlungen wegen Mordes mit terroristischem Hintergrund und Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung an. Der Anschlag von Straßburg ist der dritte in diesem Jahr in Frankreich. Im März hatte ein Marokkaner in Südfrankreich drei Menschen getötet, zwei davon bei einer Geiselnahme in einem Supermarkt. Er bekannte sich zur Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“(IS). Im Mai griff der gebürtige Tschetschene Khamzat Azimov an der Pariser Oper Passanten mit dem Messer an und tötete einen Mann. „Null Risiko gibt es nicht“, sagte der Straßburger Bürgermeister Philippe Ries. „Man muss weiterleben und solidarisch sein.“Den Weihnachtsmarkt wird er aber heute noch nicht wieder öffnen.