Das Auge nascht mit
Sie sind fast zu schön zum Essen – Angefeuert durch Fernsehshows entstehen auch in heimischen Backstuben fantasievoll dekorierte Torten
M● an nehme den Modellierfondant, richte anschließend die Lebensmittelfarben her, während das Zahnarztbesteck schon bereitliegt, und heize sodann das Tortendampfgerät auf. Und auf keinen Fall den Kuchen-Schreinerwinkel vergessen! Was wie die Ausrüstungsliste für einen bildenden Künstler klingt, hat inzwischen Einzug gehalten in viele häusliche Backstuben. Glaubt man der Interessengemeinschaft Tortendesign (ITG), so nimmt die Zahl der Hobbybäcker und vor allem -bäckerinnen, die sich in der hohen Konditorenkunst versuchen, stetig zu. Und die geben sich spätestens seit der Sat.1-Fernsehsendung „Das große Backen“mit Enie van de Meiklokjes längst nicht mehr nur mit Apfelkuchen oder Hefezopf zufrieden, sondern streben nach Höherem: Kunstvoll modellierte Torten, die mit komplizierten Figuren und feinziselierten Details ganze Geschichten erzählen können. Torten, die nicht nur die Gäste am heimischen Kaffeetisch begeistern, sondern auch die stetig wachsende Facebook-und-Instagram-Community.
Ein in der Szene bekannter Tortenkünstler – und 2016 selbst Kandidat bei „Das große Backen“– heißt Nico Stenger. Und obwohl der 42-jährige Hesse in der damaligen Staffel nur Platz zehn belegt hat – bei zehn Teilnehmern –, konnte er sich neben seinem Brotberuf als Grafik- und Webdesigner ein zusätzliches zuckersüßes Standbein aufbauen. Stenger hat sich auf das Thema „Cake Topper“spezialisiert. Das heißt auf deutsch: Seine Leidenschaft gehört in erster Linie nicht dem Kuchen selbst, sondern dem, was als Verzierung oben draufkommt. „Das ist eine Wissenschaft für sich. Mit Modellierfondant kann ich mich am besten ausdrücken“, erklärt der Zuckerkünstler, der auch regelmäßig auf Tortenmessen auftritt, wie etwa vor Kurzem in Friedrichshafen auf der „My Cake“.
Leben kann er nach eigenen Angaben von seiner Kunst nicht, noch nicht: „Es macht mir einfach unheimlich viel Spaß, mein Wissen in Kursen und auf Messen weiterzugeben.“Tatsächlich gebe es auch in Deutschland Kuchenstars, die ihr Hobby zum Beruf gemacht hätten. Zum Beispiel Bettina Schliephake-Burchardt, die Bücher über das Tortenthema schreibt, im Internet einen Blog unterhält, natürlich Kurse gibt sowie als Jurorin auf Messebühnen steht.
Und wer hat’s erfunden? Der Trend zum kunstvollen Ausdekorieren von Torten kommt aus dem englischsprachigen Raum. „In Amerika bekommen Sie das Werkzeug für das Dekorieren in jedem Supermarkt. Da ist es so eine Art Volkssport“, sagt Expertin Ines Ziems aus Eggenthal bei Kaufbeuren im Allgäu, die den richtigen Umgang mit den Modelliermassen lehrt und mit ihrem Unternehmen Backtraum auch jedes nur vorstellbare Kuchendekorationsmaterial anbietet. Die wichtigste Zutat für den Erfolg als Zuckerkünstler ist der Fondant. Diese Masse enthält in erster Linie Zucker, Pflanzenfett und auch Stabilisatoren sowie Feuchthaltemittel. Je nach Verwendungszweck ist die Zusammensetzung unterschiedlich. Es gibt Fondants, die speziell für das flache Ausrollen und Ummanteln von Kuchenteig geeignet sind. Andere wiederum sind sehr fest und lassen sich zu Figuren modellieren, die möglichst lange halten sollen und weniger zum Essen als zum Anschauen gedacht sind. Diese Modelliermasse enthält dann relativ viel Kartoffel- oder Weizenstärke. Fondant gibt es farbneutral oder bereits in verschiedenen Tönen durchgefärbt.
Natürlich bietet die Industrie, die sich auf die zunehmende Backleidenschaft der Konsumenten einstellt, diverse vorgefertigte Dekoartikel wie Marzipanblüten oder komplette Fondantummantelungen an. Auch Figürchen, Zuckerperlen oder Tortenaufleger – also kreisrunde, essbare Platten mit zum Beispiel Disney-Motiven, die oben auf die Torte aufgelegt werden – sind in den Sortimenten der Anbieter zu finden.
Dass die Tortenkunst auch hierzulande boomt, ist nicht nur an Messen wie der „My Cake“in Friedrichshafen und der „Cake it“in Stuttgart zu erkennen – auch in den Programmen der Volkshochschulen sind einschlägige Kurse inzwischen häufig verzeichnet. Offenbar profitiert auch das traditionelle Konditorenhandwerk von der neu entdeckten Liebe zur Zuckerbäckerei: Laut Deutschem Konditorenbund nimmt die Zahl der Fachbetriebe leicht zu – 2018 betrug sie 3169 mit knapp 70 000 Beschäftigten.
„Bei Profis, die ihre Torten zu Wettbewerben einreichen, ist der Geschmack zweitrangig“, sagt Stenger. „Theoretisch sind die meisten essbar.“Praktisch würden sie aber nicht besonders schmecken, weil die Zusammensetzung von Teig und Fondant darauf ausgelegt sei, möglichst lange in Form zu bleiben – und zwar unabhängig von der Temperatur. „Bis zu zwei Jahren hält so ein Kunstwerk.“
Für die meisten Hobbyzuckerkünstler steht dagegen immer noch die Essbarkeit der Kreationen im Vordergrund – bei aller Schönheit muss die Torte am Ende schon noch schmecken. Meist bilden Biskuitoder Rührteige das Innenleben der Kuchen. Und ihre vergängliche Kunst muss auch keine zwei Jahre halten – sondern höchstens bis zum Ende der sonn- und feiertäglichen Kaffeetafel.