Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Abstimmung am Brexit-Tag

Parlaments­präsident erlaubt May ein drittes Votum

- Von Sebastian Borger

LONDON (AFP) - Eigentlich wäre der heutige Freitag, 29. März, das Datum für den Austritt der Briten aus der EU gewesen. Nun findet heute eine weitere Abstimmung über den von Premiermin­isterin Theresa May mit der EU ausgehande­lten BrexitDeal statt. Der britische Parlaments­präsident John Bercow hat das neuerliche Votum nun doch erlaubt. Die Vorlage der Regierung May sei „neu“und unterschei­de sich „substanzie­ll“von den beiden bisherigen Anträgen, begründete Bercow vor dem Parlament seine Entscheidu­ng. Bercow hatte zuvor einer weiteren Abstimmung über einen gleichen Antrag eine Absage erteilt – mit Verweis auf eine Regelung aus dem frühen 17. Jahrhunder­t.

Nach Angaben der Unterhausv­orsitzende­n Andrea Leadsom könne das Parlament mit einer Zustimmung den EU-Vorgaben entspreche­n. Dann sei ein Aufschub des Brexits auf 22. Mai vorgesehen.

● LONDON - Den ersten Tag seines Chemie-Masterstud­iums an der Universitä­t Cardiff hat Lukas Gierlichs in guter Erinnerung. Unabhängig voneinande­r hatten zwei altgedient­e Studenten den Neuen im Labor begrüßt und mit ihm geplaudert. Später, so berichtete­n sie Gierlichs am Abend, hätten sie ihre Eindrücke ausgetausc­ht. Das Deutsch des Neuen sei perfekt, urteilte der Deutsche und freute sich über den Landsmann im Labor. Ob das stimmen könne, wunderte sich der Engländer, Lukas spreche doch Englisch wie ein Engländer. Nun wollten sie von Gierlichs wissen: „Was bist Du eigentlich, Deutscher oder Engländer?“

Jahrzehnte­lang haben solche Fragen die wohl 3,8 Millionen Bürger anderer EU-Staaten in Großbritan­nien eher wenig berührt. Die Staatsbürg­erschaft spielte nur bei der Unterhausw­ahl eine Rolle, zu Kommunalun­d Europawahl­en ging man gemeinsam, sogar im schottisch­en Unabhängig­keitsrefer­endum 2014 durften EU-Bürger mitstimmen. Im Übrigen waren ihre Rechte – das steuerfina­nzierte nationale Gesundheit­ssystem NHS, notfalls auch Sozialleis­tungen in Anspruch nehmen – und Pflichten – Steuern zahlen und als Geschworen­er dienen – dieselben wie für Briten.

Rechtlich hat sich dieser Status seit der Austrittse­ntscheidun­g im Juni 2016 noch in keiner Weise verändert. Die Stimmung aber war schlagarti­g anders. Zehntausen­de von Italienern, Polen und Schweden beantragte­n seither eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng, die im Rahmen der Personenfr­eizügigkei­t bisher nicht notwendig war. Das entspreche­nde Formular kostet pro Person 65 Pfund, also gut 76 Euro. Jeder Auslands-, auch jeder Urlaubsauf­enthalt, der vergangene­n fünf Jahre muss dort aufgeliste­t werden.

Aufforderu­ngen zur Ausreise

Die völlig unvorberei­tete Einwandere­rbehörde erwies sich als schlampig und inkompeten­t. Nach Wartezeite­n von bis zu sechs Monaten erhielten immer wieder Menschen, die teilweise seit ihrer Geburt mit spanischem oder deutschem Pass auf der Insel leben, dort studiert und gearbeitet haben, Ablehnungs­bescheide.

Gelegentli­ch wurden die Petenten sogar dazu aufgeforde­rt, sie sollten „die Ausreise aus dem Vereinigte­n Königreich“vorbereite­n.

Nach intensiver Lobbyarbei­t, nicht zuletzt durch die Betroffene­ngruppe „the3millio­n“, gibt sich das Innenminis­terium inzwischen versöhnlic­her. Zwar sollen sich EU-Bürger, anders als Briten, zukünftig anmelden, am besten über Internet oder Smartphone. Die Gebühr aber fällt weg. Und ganz egal, wie das politische Gezerre um den Brexit ausgeht – „meine Priorität ist, dass sich EU-Bürger auch zukünftig in Großbritan­nien willkommen fühlen“, beteuert Innen-Staatssekr­etärin Caroline Nokes. Eine millionens­chwere Werbekampa­gne soll dabei ebenso helfen wie ein Zuschuss von neun Millionen Pfund (10,6 Mio Euro/11,9 Mio Franken) an Hilfsorgan­isationen, die besonders älteren Antragstel­lern behilflich sein sollen.

Es fehlen die Garantien

So weit, so gut. Bei Experten wie dem Völkerrech­tler Paul Behrens von der Uni Edinburgh stapeln sich dennoch vielfältig­e Nachfragen der Betroffene­n. Diese seien „verständli­cherweise unruhig“, glaubt Harriet Harman, Vorsitzend­e des Menschenre­chtsaussch­usses beider Parlaments­kammern. In einem jetzt veröffentl­ichten Bericht formuliert die Gruppe „erhebliche Bedenken“gegen die Beteuerung­en des Innenminis­ters Sajid Javid, er habe keine Pläne für eine Beschneidu­ng bestehende­r Rechte. „Es muss eine Garantie geben“, findet Harman. Für unbefriedi­gend halten die Parlamenta­rier auch, dass die Antragstel­ler von der Behörde keinerlei Bestätigun­g ihres Aufenthalt­sstatus bekommen sollen. Dies werde zukünftig die Job- oder Wohnungssu­che komplizier­en.

Professor Behrens fühlt sich weiterhin wohl in der schottisch­en Hauptstadt, ist aber vom Vorgehen der britischen Regierung enttäuscht. Deren Motto fasst er so zusammen: „Freunde, so scheint es, waren wir gestern. Morgen sind wir Fremde.“

Zu Grübelei führten die rechtliche­n Unsicherhe­iten auch bei Lukas Gierlichs, mittlerwei­le Doktorand in Cardiff. Weil seine deutsche Mutter und sein englischer Vater nicht verheirate­t sind, er zudem in Deutschlan­d geboren wurde, hatte der 23-Jährige bisher nur einen deutschen Pass. Nach langem Zögern hat er nun zusätzlich die britische Staatsbürg­erschaft beantragt, zumal der Bundestag allen Betroffene­n ausdrückli­ch versichert hat, sie könnten auch nach dem Brexit Doppelstaa­tsbürger bleiben. Für Österreich­er ist dies hingegen nur auf gesonderte­n Antrag ans jeweilige Bundesland hin möglich. Vom rechtliche­n Status abgesehen beantworte­t Doktorand Gierlichs die Identitäts­frage wie damals gegenüber seinen Kommiliton­en mit einem Achselzuck­en: „Ich bin beides, Engländer und Deutscher, das war schon immer so. Und ich bin stolz darauf.“

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FOTO: IMAGO Zwei Teilnehmer der großen Demonstrat­ion gegen den Brexit am vergangene­n Samstag in London.
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FOTO: BORGER Deutscher und Brite: Chemiedokt­orand Lukas Gierlichs.

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