Abstimmung am Brexit-Tag
Parlamentspräsident erlaubt May ein drittes Votum
LONDON (AFP) - Eigentlich wäre der heutige Freitag, 29. März, das Datum für den Austritt der Briten aus der EU gewesen. Nun findet heute eine weitere Abstimmung über den von Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelten BrexitDeal statt. Der britische Parlamentspräsident John Bercow hat das neuerliche Votum nun doch erlaubt. Die Vorlage der Regierung May sei „neu“und unterscheide sich „substanziell“von den beiden bisherigen Anträgen, begründete Bercow vor dem Parlament seine Entscheidung. Bercow hatte zuvor einer weiteren Abstimmung über einen gleichen Antrag eine Absage erteilt – mit Verweis auf eine Regelung aus dem frühen 17. Jahrhundert.
Nach Angaben der Unterhausvorsitzenden Andrea Leadsom könne das Parlament mit einer Zustimmung den EU-Vorgaben entsprechen. Dann sei ein Aufschub des Brexits auf 22. Mai vorgesehen.
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● LONDON - Den ersten Tag seines Chemie-Masterstudiums an der Universität Cardiff hat Lukas Gierlichs in guter Erinnerung. Unabhängig voneinander hatten zwei altgediente Studenten den Neuen im Labor begrüßt und mit ihm geplaudert. Später, so berichteten sie Gierlichs am Abend, hätten sie ihre Eindrücke ausgetauscht. Das Deutsch des Neuen sei perfekt, urteilte der Deutsche und freute sich über den Landsmann im Labor. Ob das stimmen könne, wunderte sich der Engländer, Lukas spreche doch Englisch wie ein Engländer. Nun wollten sie von Gierlichs wissen: „Was bist Du eigentlich, Deutscher oder Engländer?“
Jahrzehntelang haben solche Fragen die wohl 3,8 Millionen Bürger anderer EU-Staaten in Großbritannien eher wenig berührt. Die Staatsbürgerschaft spielte nur bei der Unterhauswahl eine Rolle, zu Kommunalund Europawahlen ging man gemeinsam, sogar im schottischen Unabhängigkeitsreferendum 2014 durften EU-Bürger mitstimmen. Im Übrigen waren ihre Rechte – das steuerfinanzierte nationale Gesundheitssystem NHS, notfalls auch Sozialleistungen in Anspruch nehmen – und Pflichten – Steuern zahlen und als Geschworener dienen – dieselben wie für Briten.
Rechtlich hat sich dieser Status seit der Austrittsentscheidung im Juni 2016 noch in keiner Weise verändert. Die Stimmung aber war schlagartig anders. Zehntausende von Italienern, Polen und Schweden beantragten seither eine Aufenthaltsgenehmigung, die im Rahmen der Personenfreizügigkeit bisher nicht notwendig war. Das entsprechende Formular kostet pro Person 65 Pfund, also gut 76 Euro. Jeder Auslands-, auch jeder Urlaubsaufenthalt, der vergangenen fünf Jahre muss dort aufgelistet werden.
Aufforderungen zur Ausreise
Die völlig unvorbereitete Einwandererbehörde erwies sich als schlampig und inkompetent. Nach Wartezeiten von bis zu sechs Monaten erhielten immer wieder Menschen, die teilweise seit ihrer Geburt mit spanischem oder deutschem Pass auf der Insel leben, dort studiert und gearbeitet haben, Ablehnungsbescheide.
Gelegentlich wurden die Petenten sogar dazu aufgefordert, sie sollten „die Ausreise aus dem Vereinigten Königreich“vorbereiten.
Nach intensiver Lobbyarbeit, nicht zuletzt durch die Betroffenengruppe „the3million“, gibt sich das Innenministerium inzwischen versöhnlicher. Zwar sollen sich EU-Bürger, anders als Briten, zukünftig anmelden, am besten über Internet oder Smartphone. Die Gebühr aber fällt weg. Und ganz egal, wie das politische Gezerre um den Brexit ausgeht – „meine Priorität ist, dass sich EU-Bürger auch zukünftig in Großbritannien willkommen fühlen“, beteuert Innen-Staatssekretärin Caroline Nokes. Eine millionenschwere Werbekampagne soll dabei ebenso helfen wie ein Zuschuss von neun Millionen Pfund (10,6 Mio Euro/11,9 Mio Franken) an Hilfsorganisationen, die besonders älteren Antragstellern behilflich sein sollen.
Es fehlen die Garantien
So weit, so gut. Bei Experten wie dem Völkerrechtler Paul Behrens von der Uni Edinburgh stapeln sich dennoch vielfältige Nachfragen der Betroffenen. Diese seien „verständlicherweise unruhig“, glaubt Harriet Harman, Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses beider Parlamentskammern. In einem jetzt veröffentlichten Bericht formuliert die Gruppe „erhebliche Bedenken“gegen die Beteuerungen des Innenministers Sajid Javid, er habe keine Pläne für eine Beschneidung bestehender Rechte. „Es muss eine Garantie geben“, findet Harman. Für unbefriedigend halten die Parlamentarier auch, dass die Antragsteller von der Behörde keinerlei Bestätigung ihres Aufenthaltsstatus bekommen sollen. Dies werde zukünftig die Job- oder Wohnungssuche komplizieren.
Professor Behrens fühlt sich weiterhin wohl in der schottischen Hauptstadt, ist aber vom Vorgehen der britischen Regierung enttäuscht. Deren Motto fasst er so zusammen: „Freunde, so scheint es, waren wir gestern. Morgen sind wir Fremde.“
Zu Grübelei führten die rechtlichen Unsicherheiten auch bei Lukas Gierlichs, mittlerweile Doktorand in Cardiff. Weil seine deutsche Mutter und sein englischer Vater nicht verheiratet sind, er zudem in Deutschland geboren wurde, hatte der 23-Jährige bisher nur einen deutschen Pass. Nach langem Zögern hat er nun zusätzlich die britische Staatsbürgerschaft beantragt, zumal der Bundestag allen Betroffenen ausdrücklich versichert hat, sie könnten auch nach dem Brexit Doppelstaatsbürger bleiben. Für Österreicher ist dies hingegen nur auf gesonderten Antrag ans jeweilige Bundesland hin möglich. Vom rechtlichen Status abgesehen beantwortet Doktorand Gierlichs die Identitätsfrage wie damals gegenüber seinen Kommilitonen mit einem Achselzucken: „Ich bin beides, Engländer und Deutscher, das war schon immer so. Und ich bin stolz darauf.“