Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Leben im Kulturdenk­mal

Bewohner der Stuttgarte­r Weißenhofs­iedlung erzählen, wie es sich in einem Denkmal lebt

- Von Helena Golz

iesem Jahr eiert da uhaus sein 00. Jubiläum. Ein Wahrzeiche­n des „neuen Bauens is di ißenhofsie­dlung n Stuttga t. Architekte­n ie Le Corbusier und Hans Scharoun (Foto: imago) bauten ier in en 20ern Häuser, die einen radikal neuen Stil ertraten. Heut werden ie äuse vermie tet. sich im Denkma lebt, lesen Sie auf ●

STUTTGART

- Wenn Peter Steinhilbe­r Gymnastik machen wollte, dann müsste er bloß die mehrteilig­e Schiebetür, die zu seinem Badezimmer führt, einfahren. So würde das Bad mit dem Flur verschmelz­en und ein neuer großer Raum entstünde, genug Platz also für die Körperübun­g. Peter Steinhilbe­r macht keine Gymnastik, aber sein Haus ist trotzdem praktisch.

Seit 34 Jahren wohnt der 76-Jährige mit seiner Frau in einem Kleinod der modernen Architektu­r. Ihr Reihenhaus ist leicht zu erkennen, denn das Gebäude ist das einzige in der berühmten Weißenhofs­iedlung am Killesberg in Stuttgart, dessen Außenfassa­de blau ist.

Mit der Weißenhofs­iedlung wollten 17 Architekte­n in den 20er-Jahren demonstrie­ren, was „neues Bauen“heißen kann. Stuttgart litt damals, wie heute, unter Wohnungsno­t und brauchte praktische und kostengüns­tige Wohnungen. Unter den Architekte­n für dieses Vorhaben waren Größen, wie Ludwig Mies van der Rohe, Le Corbusier oder der Bauhausgrü­nder Walter Gropius. Heute zählen ihre Häuser mit den kubischen Formen und flachen Dächern zum bedeutends­ten kulturelle­n Nachlass des 20. Jahrhunder­ts.

Das blaue, zweigescho­ssige und unterkelle­rte Reihenhaus, das das Ehepaar Steinhilbe­r mietet, hat der niederländ­ische Architekt Mart Stam entworfen. Noch als sie in einer kleinen Wohnung im Stuttgarte­r Osten wohnten, gingen die Steinhilbe­rs am Killesberg spazieren und träumten davon, hier zu wohnen. Sie bewarben sich und hatten Glück, wohl auch, weil Doris Steinhilbe­r, wie viele andere Bewohner, damals beim Bund arbeitete, dem Eigentümer der Siedlung.

Viel Luft und Licht

Der schmale Eingangsbe­reich ihres Hauses wirkt zunächst unscheinba­r. Gleich rechts liegt der Eingang zum Keller, links ein Gäste-WC und die kleine Küche. Geht man jedoch geradeaus, landet man in einem großen Wohn- und Esszimmer mit Fenstern, die bis zur Decke reichen. Selbst an diesem regnerisch­en Tag strömt jede Menge Licht hinein. „Vom biologisch­en Standpunkt aus“, schrieb Walter Gropius, „benötigt der gesunde Mensch für seine Wohnung in erster Linie Luft und Licht.“Genau dieses viele Licht sei es, das sie immer wieder fasziniere, schwärmt Doris Steinhilbe­r. Aufgrund der Breite der Fensterfro­nten scheint die Sonne von Sonnenaufg­ang bis zum Mittag in das Haus. Auch im ersten Stock hat der Architekt zu beiden Seiten des Hauses breite Fensterfro­nten einbauen lassen. Zusätzlich befinden sich oberhalb aller Türen Fenster. So strömt das Tageslicht von Raum zu Raum. Allerdings: Es gibt ein innen liegendes Schlafzimm­er, das weder direkte Beleuchtun­g noch Belüftung hat. Architekt Mart Stam nahm das in Kauf, um den Gymnastikb­ereich zu ermögliche­n.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Häuser in der Weißenhofs­iedlung schwer beschädigt, einige sogar ganz zerstört, und nach dem Krieg waren dann andere Dinge wichtiger, als ein originalge­treuer Wiederaufb­au. Erst Anfang der 80er- Jahre stellte man bei einer Generalsan­ierung den ursprüngli­chen Zustand wieder her. Selbst die Wandfarben sind bei den Steinhilbe­rs original: gelb, weiß und rotorange.

Die Inneneinri­chtung aber ist den Mietern selbst überlassen: „Wir könnten hier ein Hirschgewe­ih an die Wand hängen“, sagt Doris Steinhilbe­r, aber so etwas wollte das Ehepaar nie, viel zu sehr mögen sie die Klarheit der Formen des Hauses und die Praktikabi­lität des „neuen Bauens“. In dem Sinne finden sich viele funktional­e Elemente im Haus der Steinhilbe­rs. Es gibt eine aufklappba­re Durchreich­e von der Küche ins Esszimmer, beidseitig benutzbare Einbauschr­änke und immer wieder diese mehrteilig­en Schiebetür­en, die plötzlich eine völlig andere Raumnutzun­g ermögliche­n.

Die Steinhilbe­rs haben einen Mondrian-Druck im Wohn- und Esszimmer aufgehängt. Um den großen Esstisch herum stehen Freischwin­ger-Stühle „von Mart Stam entworfen“. Das Ehepaar hat sie im gleichen Blau streichen lassen wie den Stahlpfeil­er, der die Decke stützt. „Nicht das Haus hat sich an uns angepasst, sondern wir uns an das Haus“, sagt Doris Steinhilbe­r. Das sei aber nicht negativ zu verstehen. Ein Diktat des Architekte­n? Nein. „Wir finden es stimmig so“, sagt Doris Steinhilbe­r.

Dass es auch ganz anders geht, beweisen Eleonore und Uwe Krümmel. Ihr Haus ist vom Garten der Steinhilbe­rs aus zu sehen und wurde von niemandem anderen als Hans Scharoun entworfen, späterer Architekt der Berliner Philharmon­ie und Staatsbibl­iothek. Außen erinnert die Form des Hauses an ein Schiff. Die gesamte Fensterfro­nt im Wohnzimmer ist abgerundet, eine echte Schiffslam­pe hängt am Eingang. Und dann dieser Riesenkont­rast: Innen haben die Krümmels das Haus mit Biedermeie­rmöbeln eingericht­et, kleine Bilder und Porzellan überall, aber die Krümmels haben dafür eine einfache Antwort: „Wir hatten die Möbel halt schon, wir haben doch nicht extra neue gekauft.“

Bevor sie hier einzogen, kannten die Krümmels Bauhaus zwar, aber erst dann packte sie der Wissenseif­er. „Ich habe, glaube ich, mittlerwei­le alles über Hans Scharoun gelesen“, sagt Eleonore Krümmel. Ihr Sohn sei Architekt geworden, und sie ist sich sicher, dass er durch das Haus dazu inspiriert wurde. Ob es ihr Traumhaus sei? „Ja, und wie!“, sagt sie. „Jeden Tag darf ich das sehen.“Sie deutet Richtung der großen Fensterfro­nt. Sieht man hinaus, blickt man den Killesberg hinab, in der Ferne sieht man die Stuttgarte­r Wagenhalle­n, die Wilhelma und den großen Pragfriedh­of. Unterbroch­en wird die Aussicht nur von den regelmäßig vorbeizieh­enden Schulklass­en, Studenteng­ruppen und Architektu­rTouristen. Die Krümmels können zig Geschichte­n erzählen, darüber, wie es ist, in einem Denkmal zu leben. Immer wieder kommt es vor, dass Passanten fragen, ob sie sich im Haus umsehen dürften. Einmal kam eine Japanerin vorbei, erzählt Eleonore Krümmel. Ganz höflich habe sie gefragt, ob sie mit ein paar Freunden vorbeikomm­en könnte, um das Haus innen zu besichtige­n. Krümmel stimmte zu. Einen Tag später klopfte es an der Tür, und 45 Japaner standen draußen und zogen sich die Schuhe aus, bereit durch die Räume zu wandern. „Das ist normal, wenn man in einem so besonderen Haus wohnt“, sagen die Krümmels lachend.

„Eine gewisse Grundsympa­thie“gegenüber den Häusern sei ein Muss, finden auch die Steinhilbe­rs von gegenüber. Die Häuser der Siedlung sind denkmalges­chützt. Alles muss also so bleiben wie es ist: keine Hecken, keine Aufbauten und auch keine Veränderun­gen an der Bausubstan­z. Folglich blicken Schaulusti­ge direkt ins Wohnzimmer oder man zahlt hohe Heizkosten, weil es keine moderne Isolierung gibt. Aber die Bewohner nehmen das gerne hin, um in ihrem Traumhaus zu wohnen, mit Gymnastikb­ereich, fabelhafte­m Ausblick und ganz viel Luft und Licht.

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FOTO: IMAGO Die blauen Reihenhäus­er des Architekte­n Mart Stam in der Weißenhofs­iedlung.
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FOTOS: HELENA GOLZ Die Steinhilbe­rs (oben) und die Krümmels (unten).
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