Vom Schützengraben auf die Bühne
Das Naturtheater Heidenheim feiert seinen 100. Geburtstag – Eine wechselvolle Geschichte mit Höhen und Tiefen
HEIDENHEIM - Schon die Gründung des Naturtheaters Heidenheim liest sich wie ein Theaterstück: Im Schützengraben in Frankreich soll sich, so erzählt die Vereinsgeschichte, der junge Gärtner Gustav Müller mitten im Ersten Weltkrieg geschworen haben: „Wenn ich hier rauskomme, will ich mein Leben einsetzen für etwas, was die Menschen verbindet: die Kunst.“1919 setzt er dieses Versprechen in die Tat um und wurde Vorsitzender der „Volkskunstvereinigung Heidenheim“.
100 Jahre später lebt seine Idee immer noch. Die Geschichte des Theaters, ganz Drama, blieb wechselvoll. In den 1980ern stand das Theater vor dem Aus. Jetzt aber ist die Situation des Naturtheaters Heidenheim so gut wie nie zuvor. Norbert
Pfisterer, seit knapp sechs Jahren Vorsitzender des Vereins Naturtheater Hei- denheim, erzählt die Gründungsgeschichte gerne, schwächt aber auch ab: „Müller hat das natürlich nicht alleine gemacht.“Trotzdem ist es bemerkenswert, dass sich ein Gruppe junger Theaterfans, alle Mitte 20, direkt nach den Kriegswirren zusammenfand, um Theater zu machen. Und das mit Elan. Schon 1924 wurde mit viel Eigenleistung eine eigene Bühne gebaut. Erstes Stück: Schillers „Wilhelm Tell“.
Nachdem die junge Bühne einige Jahre durch diverse Gebäude des Städtchens an der Brenz gewandert war, erhielt sie 1924 auf dem Schlossberg ein eigenes Gelände. „Da war damals nichts als Wald und Wiese“, erzählt Pfisterer. Das Gelände bot gut 2000 Zuschauern Platz, „größer als heute“, fügt Pfisterer an, aber mit Platz für 1100 Zuschauer gehört die Heidenheimer Freilichtbühne noch heute zu den größeren.
„Dann ging’s Schlag auf Schlag“, fährt Pfisterer fort. „Es sprach sich in der ganzen Region herum, Tausende reisten nach Heidenheim an.“Die höchste Zuschauerzahl erreichte die Premiere von Friedrich Hebbels „Agnes Bernauer“am 1. Juli 1935 mit 7000 Besuchern. Absoluter Höhepunkt war die Saison 1952: Sage und schreibe 95 000 Zuschauer sahen die Inszenierung von „Wilhelm Tell“. „Damals gab’s schließlich kein Fernsehen, das irgendwie abgelenkt hätte“, sagt Pfisterer lachend. Zum Vergleich: Für die beiden Sommerstücke 2019, „West Side Story“und „Herr der Diebe“, wurden mehr als 31 000 Karten verkauft.
Ein Buch zum Jubiläum
„Wir haben die Geschichte des Theaters fürs Jubiläum in einem Buch zusammengefasst“, erzählt Pfisterer. Sechs Studentinnen der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd haben sich gemeinsam mit ihrem Professor Gerhard Fritz und mit Martin Burkhardt, dem Leiter des Heidenheimer Heimat- und Altertumsvereins, die Mühe gemacht und sich ein halbes Jahr durch diverse Archive gewühlt und „Material ohne Ende“gesichtet. Bei einem Festakt am 13. Juli soll das Buch vorgestellt werden. „Eine tolle Sache, letztendlich wird das Buch wohl das Einzige sein, was uns vom Jubiläum übrig bleibt“, sagt Pfisterer.
Auch die wechselvolle Geschichte wird mehrere Seiten in diesem Buch einnehmen. Pfisterer: „Es gab Situationen, da stand es Spitz auf Knopf.“Am schlimmsten stand es um den Verein in den 1980ern, der damalige Vorsitzende sei wohl eher Künstler als Kaufmann gewesen. So stellte sich die große Frage: Wie geht’s weiter? „Die Stadt Heidenheim hat dann das Gelände übernommen. Das hat den Verein vor dem Ruin bewahrt“, erzählt Pfisterer. Noch heute unterstützt die Stadt das Theater, wo sie kann. Im Vorjahr wurden zum Beispiel 1,2 Millionen Euro in die Gebäudeerneuerung investiert.
Und auch mit den Zuschauerzahlen sah es nicht immer rosig aus. „Wir hatten Jahre, da kamen 40, 50 Zuschauer zu den Vorstellungen, das Naturtheater hatte lange einen ganz schlechten Ruf“, erklärt Pfisterer. „Aber diese Zeiten seien vorbei, seit fünf, sechs Jahren gehe es wieder aufwärts. Die Auslastung lag meist nie unter 96 Prozent. Derzeit hat der Verein 600 Mitglieder, Tendenz steigend. „Unsere Schauspieler, alles Amateure, kommen aus der ganzen Region, aus Aalen etwa, oder auch aus dem benachbarten bayerischen Raum. Die Stimmung war noch nie so gut wie im Moment.“
Muss sie auch sein, denn die Arbeit geht nicht aus. Das Theater stemmt die Bühnenbilder selbst (Manuel Meiswinkel), treibt eine rührige Jugendgruppe um (seit 1976 gibt es auch Kinderstücke), hat einen Theatersaal, der im Herbst und Winter bespielt wird, bietet Workshops an und führt eine eigene Schneiderei mit Kostümverleih mit mehr als 5000 Kostümen „und allem, was dazu gehört“, sagt Pfisterer nicht ohne Stolz.
Mit Bernsteins Musical „West Side Story“hat sich das rund 100-köpfige Ensemble heuer eine große Aufgabe vorgenommen. „Zur Auswahl standen ,Moulin Rouge’ und ,West Side Story’ – bei der ,West Side Story’ war die Rechtefrage einfacher zu klären“, erzählt der Vereinsvorsitzende. Viele im Verein hätten gewarnt: „Das kriegt ihr nie und nimmer hin.“Die Premiere am 14. Juni ließ die Kritiker verstummen. Dank zweier Choreografen aus Ulm (Roberto Scarfati und Caterina Salvadori) und des Orchesters um den Ulmer Markus Romes lief alles wie am Schnürchen. Über ein halbes Jahr lang wurde geprobt. „Wir haben viele gute Leute im Verein, sonst hätten wir die Finger davon gelassen“, freut sich Pfisterer über den Premierenerfolg, „jetzt geht der Run auf die Karten erst richtig los.“
Bis zum 17. August sind immer am Wochenende Vorstellungen angesetzt. Bereits jetzt sind Zusatzvorstellungen geplant. Stefan Feth, für den Kartenvorverkauf zuständig, wirft einen kurzen Blick in den PC: „31 185 Karten verkauft. Restkarten vorhanden.“Zur Not gibt Feth auch noch einige Zusatzbänke frei, damit der Andrang für so manche Zuschauer doch noch ein Happy End hat.