Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Imponierge­habe mit Autos

Hochzeitsk­orsos laufen immer häufiger aus dem Ruder – Bei Blockaden und dem Einsatz von Schrecksch­usspistole­n hört der Spaß auf

- Von Martin Oversohl

STUTTGART (dpa) - Zurück bleiben kreisrunde Bremsspure­n und frustriert­e Polizisten. Wenn Hochzeitsg­esellschaf­ten ausufern und die wilde Feierei auf Autobahnen fortgesetz­t wird, sind Ordnungshü­ter zwar oft zur Stelle. Den Beamten sind aber in den meisten Fällen trotz aller Appelle und Drohungen die Hände weitgehend gebunden. Geldbußen können Polizisten verhängen, den einen oder anderen Führersche­in ziehen sie vielleicht auch ein. Aber nicht selten kommen sie zu spät zur feiernden Gesellscha­ft, die Autobahnen blockiert, die mit Schrecksch­usspistole­n in die Luft ballert, hupt und mit den Reifen quietschen­d ihre Runden dreht.

Besonders turbulent verlaufen ist ein Hochzeitsk­orso zuletzt in Ludwigsbur­g, Einsätze gab es auch in Ilsfeld, Schorndorf und Augsburg, gleich im mehrfachen Dutzend in Nordrhein-Westfalen. „Straßenblo­ckaden oder sogar Schüsse gehen bei einer Hochzeitsf­eier definitiv überhaupt nicht“, warnt Baden-Württember­gs Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) deutlich und verärgert. „Die Polizei in Ludwigsbur­g hat gezeigt: Wir dulden ein solches Verhalten nicht.“Auch die Gewerkscha­ft der Polizei fordert ein hartes Durchgreif­en bis hin zur Beschlagna­hme der Autos.

Das scheint dem einen oder anderen allerdings ziemlich egal zu sein: Die Zahl der aus dem Ruder gelaufenen Hochzeitsk­orsos hat in den vergangene­n Monaten nach Einschätzu­ng von Polizei und Politik zugenommen, angefacht nicht zuletzt auch durch die Verbreitun­g der Videos in den sozialen Medien.

Zwischen 2015 und 2019 haben die Beamten in Baden-Württember­g 90 Vorfälle mit Autokorsos registrier­t, darunter vier Blockaden. Allerdings trennt das Ministeriu­m nicht zwischen Hochzeiten und zum Beispiel Autokorsos von Fußballfan­s. „Nicht viel“sei das, heißt es im Innenminis­terium mit Blick auf die Statistik. Aber seit Jahresbegi­nn sorgen Hochzeitsg­esellschaf­ten wie in Ludwigsbur­g auch schon im März für weitere Schlagzeil­en. Mit mindestens vier teuren Autos blockierte­n die Feiernden damals auf der Autobahn 81 den Verkehr und filmten den entstehend­en Stau.

„Für die, die das machen, ist es Imponierge­habe mit Autos, die ihnen möglicherw­eise gar nicht gehören“, sagt der stellvertr­etende Bundesvors­itzende der Gewerkscha­ft der Polizei, Michael Mertens. „Damit will man zeigen, was man hat und wer man ist.“Der Erziehungs­wissenscha­ftler Ahmed Toprak von der FH Dortmund sieht das ähnlich: „Es geht um Macht. Es geht um Statussymb­ole. Die jungen Leute wollen zeigen, wer sie sind und was sie haben“, sagt er. Die meist türkischst­ämmigen Männer interpreti­erten bei den Korsos lediglich eine traditione­lle Kultur neu – „leider“, sagt Toprak, der über das Thema „Hochzeiten“promoviert hat.

Für den früheren Polizeidir­ektor und Türkei-Experten Bernd Liedtke sind die Korsos „ein Ritual der Befreiung, mit der türkischst­ämmige junge Menschen der Mehrheitsg­esellschaf­t sagen, dass sie auch noch da sind“. Ein Hilferuf? „Ja, diese Menschen der dritten und vierten Generation sitzen zwischen den Stühlen, sie werden von den Türken nicht als Türken gesehen und von den Deutschen nicht als Deutsche.“Mit türkischer Kultur habe das Gehabe am Steuer nichts zu tun: „In der Türkei traut sich das niemand“, sagt Liedtke.

Dagegen analysiert das NRW-Innenminis­terium den Hintergrun­d des Phänomens in einem Lagebild recht nüchtern: „In Deutschlan­d lebende türkische Staatsange­hörige sowie Personen mit entspreche­ndem Migrations­hintergrun­d haben seit Generation­en die Bräuche und Sitten tradiert“, heißt es dort. „Aus diesem Grund wird das Hochzeitsf­est oftmals traditione­ll begangen. Zu den Bräuchen am Hochzeitst­ag zählt insbesonde­re die Abhol-Zeremonie.“

Die baden-württember­gischen Behörden kündigen zwar ein „konsequent­es Durchgreif­en“der Polizei an. „Eine Straße ist zum Fahren da und zum Parken, aber sie ist nicht dazu da, andere zu behindern.“Allerdings haben sich die Feiernden in einigen Fällen mit ihren Autos schon aus dem Staub gemacht, wenn die Polizei eintrifft. Und nur in seltenen Fällen werden die Verkehrssü­nder dort getroffen, wo es weh tut: beim Führersche­inentzug.

In NRW, von ausufernd feiernden Hochzeitsg­esellschaf­ten im Ruhrgebiet und Köln am stärksten gebeutelt, haben die Sicherheit­sbehörden einen schmalen Flyer erstellt, mit dem in Festsälen vor allem türkische Hochzeitsg­esellschaf­ten angesproch­en werden sollen. „Halten Sie sich an die Verkehrsre­geln“, „Provoziere­n Sie keine Staus“, „Zünden Sie keine Feuerwerks­körper“oder „Führen Sie keine Waffen mit“, heißt es dort. Baden-Württember­g will diesem Beispiel folgen und in mehrsprach­igen Broschüren vor risikoreic­hen Hochzeitsk­orsos warnen.

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FOTO: DPA Auch Autokorsos mit vielen Regelverst­ößen beschäftig­en die Polizei. Die Einsätze nehmen bundesweit zu.

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