Es tut sich etwas in Erdogans Türkei
D● rei Jahre nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 kämpft sich die türkische Demokratie unter den Trümmern der damaligen Katastrophe zurück ans Tageslicht. Der Weg ist noch weit. Doch zum ersten Mal seit dem Umsturzversuch ist erkennbar, dass das Land nicht dauerhaft in einem autokratischen System verharren wird.
Der Schock des Aufstandes gegen die demokratisch gewählte Regierung von Recep Tayyip Erdogan sitzt immer noch tief. Rund 250 Menschen starben, die Aufständischen beschossen das Parlament in Ankara und planten die Ermordung des Präsidenten. Auch Erdogan-Kritiker waren entsetzt über die Gewalt. Welche Rolle Erdogans ehemaliger politischer Partner, der islamische Prediger Fethullah Gülen, bei dem Putschversuch spielte, ist bis heute unge
klärt. Dass Gülens Anhänger in der Putschnacht mit an den Schalthebeln saßen, ist zwar unumstritten. Viele Fragen bleiben jedoch unbeantwortet, weil Erdogan eine schonungslose Untersuchung des Putschversuchs verhindert hat. Diese würde für seine Partei AKP wegen ihrer vielen Verbindungen zu Gülens Bewegung unangenehm.
Statt die Ereignisse ehrlich aufzuarbeiten, benutzte Erdogan den Putsch, um gegen Gülens tatsächliche und angebliche Gefolgsleute sowie gegen andere Gegner vorzugehen. Zehntausende Verdächtige wurden verhaftet, mehr als hunderttausend aus dem Staatsdienst entlassen. Erdogan ließ Zeitungen und Fernsehsender verbieten und Journalisten einsperren. Große Teile der Justiz wurden zu willfährigen Instrumenten der Regierung. Weniger als ein Jahr nach dem versuchten Staatsstreich setzte Erdogan bei einer Volksabstimmung die Einführung eines Präsidialsystems mit weitreichenden Vollmachten für ihn selbst durch. Auch seit Aufhebung des Ausnahmezustandes 2018 hat der Druck auf Andersdenkende nicht nachgelassen. Die Beziehungen zur EU stecken in der Dauerkrise.
Nun aber tut sich etwas in der Türkei. Die jüngsten Wahlsiege der Opposition in den größten Städten des Landes haben ein Gegengewicht zur bisherigen AKP-Allmacht geschaffen. Die Verfolgung von Gegnern trifft sogar in Erdogans eigener Partei auf wachsenden Widerstand. Widersprüche der AKP im Umgang mit Gülen werden öffentlich angeprangert. Selbst in der Justiz regt sich Widerstand. Der Berufungsgerichtshof hob vor einigen Tagen lebenslange Haftstrafen gegen zwei Journalisten auf, denen mit absurden Beschuldigungen eine Gülen-Verbindung in die Schuhe geschoben worden war.
Ohne grundlegende Reformen werden solche Urteile jedoch die Ausnahme bleiben. Der schlimme Zustand der Justiz gehört zum schweren Erbe des Putschversuches. Erst wenn die Gerichte einigermaßen unabhängig sind, werden eine ehrliche Aufarbeitung der Ereignisse vom 15. Juli 2016 und eine Wiederannäherung an europäische Demokratie-Standards möglich. Noch ist die Türkei weit davon entfernt. Doch drei Jahre nach dem Putsch ist er zumindest nicht mehr unmöglich.