Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Es tut sich etwas in Erdogans Türkei

- Von Susanne Güsten, Istanbul

D● rei Jahre nach dem Putschvers­uch vom 15. Juli 2016 kämpft sich die türkische Demokratie unter den Trümmern der damaligen Katastroph­e zurück ans Tageslicht. Der Weg ist noch weit. Doch zum ersten Mal seit dem Umsturzver­such ist erkennbar, dass das Land nicht dauerhaft in einem autokratis­chen System verharren wird.

Der Schock des Aufstandes gegen die demokratis­ch gewählte Regierung von Recep Tayyip Erdogan sitzt immer noch tief. Rund 250 Menschen starben, die Aufständis­chen beschossen das Parlament in Ankara und planten die Ermordung des Präsidente­n. Auch Erdogan-Kritiker waren entsetzt über die Gewalt. Welche Rolle Erdogans ehemaliger politische­r Partner, der islamische Prediger Fethullah Gülen, bei dem Putschvers­uch spielte, ist bis heute unge

klärt. Dass Gülens Anhänger in der Putschnach­t mit an den Schalthebe­ln saßen, ist zwar unumstritt­en. Viele Fragen bleiben jedoch unbeantwor­tet, weil Erdogan eine schonungsl­ose Untersuchu­ng des Putschvers­uchs verhindert hat. Diese würde für seine Partei AKP wegen ihrer vielen Verbindung­en zu Gülens Bewegung unangenehm.

Statt die Ereignisse ehrlich aufzuarbei­ten, benutzte Erdogan den Putsch, um gegen Gülens tatsächlic­he und angebliche Gefolgsleu­te sowie gegen andere Gegner vorzugehen. Zehntausen­de Verdächtig­e wurden verhaftet, mehr als hunderttau­send aus dem Staatsdien­st entlassen. Erdogan ließ Zeitungen und Fernsehsen­der verbieten und Journalist­en einsperren. Große Teile der Justiz wurden zu willfährig­en Instrument­en der Regierung. Weniger als ein Jahr nach dem versuchten Staatsstre­ich setzte Erdogan bei einer Volksabsti­mmung die Einführung eines Präsidials­ystems mit weitreiche­nden Vollmachte­n für ihn selbst durch. Auch seit Aufhebung des Ausnahmezu­standes 2018 hat der Druck auf Andersdenk­ende nicht nachgelass­en. Die Beziehunge­n zur EU stecken in der Dauerkrise.

Nun aber tut sich etwas in der Türkei. Die jüngsten Wahlsiege der Opposition in den größten Städten des Landes haben ein Gegengewic­ht zur bisherigen AKP-Allmacht geschaffen. Die Verfolgung von Gegnern trifft sogar in Erdogans eigener Partei auf wachsenden Widerstand. Widersprüc­he der AKP im Umgang mit Gülen werden öffentlich angeprange­rt. Selbst in der Justiz regt sich Widerstand. Der Berufungsg­erichtshof hob vor einigen Tagen lebenslang­e Haftstrafe­n gegen zwei Journalist­en auf, denen mit absurden Beschuldig­ungen eine Gülen-Verbindung in die Schuhe geschoben worden war.

Ohne grundlegen­de Reformen werden solche Urteile jedoch die Ausnahme bleiben. Der schlimme Zustand der Justiz gehört zum schweren Erbe des Putschvers­uches. Erst wenn die Gerichte einigermaß­en unabhängig sind, werden eine ehrliche Aufarbeitu­ng der Ereignisse vom 15. Juli 2016 und eine Wiederannä­herung an europäisch­e Demokratie-Standards möglich. Noch ist die Türkei weit davon entfernt. Doch drei Jahre nach dem Putsch ist er zumindest nicht mehr unmöglich.

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Weltmacht Europa
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FOTO: AFP Recep Tayyip Erdogan

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