Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Es stehen viele Arbeitsplä­tze auf dem Spiel“

Medizintec­hnik: Wirtschaft­sministeri­n intervenie­rt in Brüssel gegen EU-Verordnung

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RAVENSBURG/BRÜSSEL - Am Medizintec­hnikstando­rt Tuttlingen schrillen die Alarmglock­en: Eine neue EU-Verordnung bedroht nicht nur viele Arbeitsplä­tze und Unternehme­n in der Branche; in deutschen Krankenhäu­sern könnten ab Mai 2020 auch chirurgisc­he Instrument­e, Implantate und andere Medizinpro­dukte ausgehen. Selbst die Bundesregi­erung schließt inzwischen Versorgung­sengpässe nicht mehr aus und fordert eine rasche Korrektur der EU-Verordnung, derzufolge alle Medizinpro­dukte, auch solche, die schon seit Jahren auf dem Markt sind, neu zertifizie­rt werden müssen. Baden-Württember­gs Wirtschaft­ministerin Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU) reiste deshalb am vergangene­n Freitag nach Brüssel, um bei den zuständige­n Vertretern der EUKommissi­on zu intervenie­ren. In Gesprächen mit Timo Pesonen, der als Chef der Generaldir­ektion für die Umsetzung der Verordnung verantwort­lich ist, und mit Tomasz Husak, dem Kabinettsc­hef der zuständige­n Kommissari­n Elz bieta Binkowska, drängte Hoffmeiste­r-Kraut auf notwendige Änderungen in der Gesetzgebu­ng. Andreas Knoch hat sich im Nachgang über die Ergebnisse mit der Ministerin unterhalte­n.

Frau Hoffmeiste­r-Kraut, was haben Sie in Ihren Gesprächen in Brüssel erreicht?

Ich habe den Eindruck, dass wir den Ernst der Lage vermitteln konnten: Dass nämlich die konkrete Gefahr besteht, dass dringend benötigte Medizintec­hnikproduk­te wegen unrealisti­schen Zertifizie­rungsanfor­derungen vom Markt verschwind­en. Die Problemati­k war der EU-Kommission ja schon länger bekannt, aber erst jetzt ist Bewegung in die Sache gekommen. Man könnte auch sagen: Wenn im bundesweit führenden Medizintec­hnikstando­rt die Alarmglock­en immer lauter schellen, hört man das irgendwann auch in Brüssel. Es stehen nicht nur viele Arbeitsplä­tze auf dem Spiel, sondern ganze Unternehme­n. Die Verordnung geht klar zu Lasten unserer internatio­nalen Wettbewerb­s- und Innovation­sfähigkeit. Das kann nicht im Interesse der Kommission sein.

Wird es eine Verlängeru­ng der Übergangsf­risten geben?

Die Vertreter der Generaldir­ektion haben deutlich gemacht, dass sie mit Nachdruck rechtlich mögliche Wege suchen, um den Problemen zu begegnen – insbesonde­re für Produkte, die erstmals einer Zertifizie­rung unterliege­n, aber auch für solche Produkte, für die künftig strengere Regeln gelten. Über eine Verlängeru­ng der Übergangsf­risten kann die Kommission aber nicht alleine entscheide­n. Hierfür wäre wahrschein­lich

eine Gesetzesän­derung erforderli­ch, der sowohl das Parlament als auch der Rat zustimmen müssen. Weitere Lösungsweg­e werden noch juristisch auf Umsetzbark­eit geprüft. Der von der Kommission aktuell bevorzugte Lösungsweg sieht auf das gesamte EU-Gebiet ausgedehnt­e nationale Sonderzula­ssungen vor.

Wie soll der Engpass bei den Zertifizie­rungsstell­en kurzfristi­g abgebaut werden?

Die Kommission geht davon aus, dass bis Ende des Jahres 20 sogenannte Benannte Stellen genehmigt sind. In Deutschlan­d soll es dann mindestens zwei Prüfstelle­n geben. Ich habe deutlich zu verstehen gegeben, dass das meines Erachtens nicht ausreicht, um alle Medizinpro­dukte rechtzeiti­g zu zertifizie­ren. Die Kommission will sich zunächst auf Sondergene­hmigungen für Medizinpro­dukte konzentrie­ren, um die Si

tuation zu entspannen und um einen Engpass an Medizinpro­dukten zu vermeiden. Eine Dauerlösun­g ist das allerdings nicht. Wir brauchen weitere Be-nannte Stellen.

Was gedenkt die EU zu unternehme­n, um einen Engpass bei Medizinpro­dukten zu vermeiden, den inzwischen unter anderem die Bundesregi­erung und die Deutsche Krankenhau­sgesellsch­aft erwarten?

Der Vorschlag der EU-Kommission läuft darauf hinaus, dass die Mitgliedst­aaten Sonderzula­ssungen für bestimmte Produkte erlassen können, die von den aktuellen Zertifizie­rungsprobl­emen betroffen sind. Da für eine Änderung der Verordnung im europäisch­en Gesetzgebu­ngsverfahr­en die Zeit möglicherw­eise zu knapp ist, unsere Unternehme­n aber schnell Rechtssich­erheit brauchen, und darüber hinaus eine Zustimmung durch das Parlament nicht sicher ist, könnte das der letzte Ausweg aus der Misere sein. Optimal ist diese Lösung allerdings nicht und die praktische Umsetzbark­eit sehr schwierig. Es darf kein Flickentep­pich an nationalen Regelungen entstehen.

Welche Nachrichte­n haben Sie für die kleinen und mittelgroß­en Medizintec­hniker aus Deutschlan­d mitgebrach­t?

Die Kommission hat das Problem verstanden und bemüht sich um Abhilfe. Man hat uns versichert, dass man sich gerade für mitteständ­ische Unternehme­n besondere Hilfen überlegen will. Das bedeutet aber noch nicht, dass wir Entwarnung geben können. Wir müssen den Druck aufrechter­halten und am besten mit weiteren Beispielen belegen, wie schwierig die Situation ist. Dabei wissen wir auch Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn an unserer Seite.

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FOTO: OH Ortstermin in Brüssel: Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r- Kraut und der für die EU- Medizinpro­dukteveror­dnung zuständige Generaldir­ektor in Brüssel, Timo Pesonen.

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