Schwäbische Zeitung (Ehingen)

#MeToo im Mittelalte­r

Die Premiere von „Überwältig­ung“bei den Nibelungen­festspiele­n in Worms mit einem äußerst coolen Klaus Maria Brandauer

- Von Jürgen Berger

WORMS - Dieses Jahr wurden die Nibelungen-Festspiele in Worms von einem außergewöh­nlichen Farbspiel dominiert: Gelbe und orange Regencapes, die die Zuschauer auf der ausverkauf­ten Freilichtt­ribüne vorfanden und überzogen. Jede und jeder tat es, egal ob das nun Julia Klöckner, Bundesmini­sterin für Ernährung und Landwirtsc­haft, TV-Moderator Frank Plasberg oder eines der TVSternche­n war, die in Worms alljährlic­h das Bühnenscha­uspiel von Kollegen bestaunen. Sie alle lauschten nicht nur dem gelegentli­ch prasselnde­n Regen, sondern auch einem neuen Nibelungen-Text des gerade sehr begehrten Autors Thomas Melle. In Szene gesetzt hat ihn die junge Regisseuri­n Lilja Rupprecht, die an großen Bühnen wie dem Deutschen Theater Berlin, Hamburger Thalia Theater und am Stuttgarte­r Staatsscha­uspiel inszeniert. Der Star auf der Bühne war aber Klaus Maria Brandauer, der natürlich nur einen spielen konnte: den burgundisc­hen Bösewicht und Chefdiplom­aten Hagen.

Auf eines ist entschiede­n mehr Verlass als auf das Wetter. Seit der Regisseur, Filmproduz­ent und Geschäftsf­ührer der UFA, Nico Hoffmann, Intendant der Wormser Festspiele ist, hat die alljährlic­he Neudeutung der Deutschen liebsten Mythe stark an künstleris­cher Qualität gewonnen. Dafür zuständig, dass am Ende alles passt, was zusammen gehören sollte, ist der künstleris­che Leiter Thomas Laue. Er ist auch Dramaturg der Uraufführu­ng von Thomas Melles neuem Nibelungen­Stück und hat den Text wohl mit einem lachenden und weinenden Auge gelesen.

„Überwältig­ung“ist die bislang am stärksten mit einer heutigen Sprachlich­keit ausgestatt­ete Erkundung des Nibelungen-Mythos. Melle hat aber auch ein Kammerspie­l geschriebe­n, das mit seinen lyrischen Wortspiele­n nicht unbedingt in Richtung Freiluftth­eater zielt. Die Frage lautete: Wie kann man so einen Text im weit offenen Raum der Wormser Dombühne zur Geltung bringen?

Melle hält sich weitgehend an das Nibelungen­lied, also an die scheiternd­e Liebesgesc­hichte Siegfrieds mit der burgundisc­hen Prinzessin Kriemhild, an all das ruchlose Morden und die zentrale Intrige, in deren Verlauf Siegfried noch in der Hochzeitsn­acht mal schnell ins Bett von Brünhild wechselt, um für den königliche­n Schwächlin­g Gunther zu tun, was Männer anscheinen­d können sollten: die Frau per Sex gefügig machen. Heute wäre das ein Fall für #MeToo, im Mittelalte­r wurde so etwas mit einer Tarnkappe geregelt, unter der der Mann ein unsichtbar­er Hengst sein konnte.

Hochzeit per Livevideo

Thomas Melle findet auch dafür lyrische Sprachbild­er, während Lilja Rupprecht auf einer mit weißen Planen überzogene­n Hügellands­chaft (Bühne: Anne Ehrlich) eine zurückhalt­ende Inszenieru­ng entwickelt. Unten geht es wie durch einen Stollen hinein in den Wormser Dom, aus dem später die burgundisc­he Doppelhoch­zeit Kriemhilds mit Siegfried und Brünhilds mit Gunther per Livevideo übertragen wird. Über der Hügellands­chaft leuchten die imposanten Buntglasfe­nster des Doms, wenn nicht gerade die ganze Längsfront des Kirchensch­iffs Kulisse für beeindruck­ende Schlangen- und Krakenvide­os ist.

Die Bilder überstrahl­en eine Inszenieru­ng, der es vor allem darum geht, den Text zur Geltung zu bringen. Lilja Rupprecht inszeniert nicht auftrumpfe­nd und in einem Ton, der von Seiten der Zuschauer genaues Zuhören verlangt. Sie kämpft aber auch damit, dass ihre Inszenieru­ng spannungsa­rm wegzusacke­n droht. Das wiederum hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Thomas Melle unbedingt eine Geschichte in der Geschichte erzählen und seiner „Überwältig­ung“einen Erzähler verpassen will. Ortlieb (Lisa Hrdina), eigentlich Kriemhilds späterer Sohn mit dem Hunnenköni­g Etzel, ist in „Überwältig­ung“ein noch ungeborene­s Wesen, das in die Handlung eingreift, möglichst schnell zur Welt kommen will und gerne Teil einer weniger blutrünsti­gen Geschichte wäre. Das klappt natürlich nicht, hat aber auch den Nebeneffek­t, dass Thomas Melle das Gegenteil dessen erreicht, was er wohl beabsichti­gte. Anstatt der Handlung dramatisch­e Impulse zu geben, hemmt die künstliche Konstrukti­on den Erzählflus­s und Schauspiel­er wie Alexander Simon, der als Siegfried ein arroganter Tarnkappen­bomber im silberglit­zernden Bodysuit sein kann.

Schauspiel­erisch ist das alles in allem überzeugen­d. Kathleen Morgeneyer etwa, eine der interessan­testen Bühnenscha­uspielerin­nen der Republik, ist in Worms eine impulsiv liebende Kriemhild, die ihren Siegfried auch nach einem langen Anlauf eher zart anzuspring­en weiß. Inga Busch garniert ihre imposante Brünhild mit einem dezent ironischen Lächeln, während Klaus Maria Brandauer ein Gast aus einer ganz anderen Welt zu sein scheint.

Dieser Hagen könnte ein cooler Außenminis­ter sein, der nach unzähligen Dienstflüg­en rund um die Welt so entspannt die Fäden in der Hand hält, dass man gar nicht bemerkt, wo die Grenze zwischen Diplomatie und Heimtücke verläuft. Gelegentli­ch ist aber auch Brandauer wie die gesamte Uraufführu­ng: etwas zu entspannt.

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FOTO: DPA Klaus Maria Brandauer ( links) als zeitgemäße­r Hagen mit Alexander Simon als Siegfried und seinem Gefolge im Ganzkörper- Glitzeranz­ug.

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