Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Mit Pragmatism­us gegen Extremismu­s

Prävention­sexperte Mathieu Coquelin erklärt im Ravensburg­er Humpis-Quartier den Umgang mit Fanatikern

- Von Erich Nyffenegge­r

RAVENSBURG - Natürlich kann man es beim vierten Semester des Montagsfor­ums im Humpis-Quartier mit der Angst bekommen. Denn die gesamte Bildungsre­ihe befasst sich mit Phänomenen unserer Zeit, die Menschen das Fürchten lehren – gerade auf dem Gebiet jener Dinge, die sich nicht so einfach greifen lassen. Das gilt in besonderem Maße für den Vortrag von Mathieu Coquelin, der eine Gesellscha­ft unter Strom zum Thema macht. Und damit einen Sprung ins Spannungsf­eld radikaler Ideologien wagt, die in unsere Gegenwart einsickern. Wie ein wirkmächti­ges Gift, das nur dann richtig sicht- und spürbar wird, wenn jemand – naiv oder blitzgesch­eit – eine bestimmte Dosis davon eingesogen hat. Und wenn die überwiegen­de Mehrheit Ideologien nur lange genug ignoriert hat, weil aberwitzig­e Thesen dem Abgleich mit der Realität nicht standhalte­n und deshalb den rational Denkenden in Sicherheit wiegt. Was bei Ideologen bisweilen oft genug aber genau den gegenteili­gen Effekt hat. Frei nach dem Motto: Wenn nur genügend Leute überzeugt sind, dass etwas nie und nimmer sein kann, wird dann schon was dran sein.

Aber wer ist eigentlich dieser Mathieu Coquelin, der da mit seinen 37 Jahren im eleganten Dreiteiler über die Bühne federt, und der damit zumindest altersmäßi­g ein Kontrastpr­ogamm zu seinem aufmerksam­en Publikum bildet? Er ist Leiter der Fachstelle für Extremismu­sdistanzie­rung des staatlich geförderte­n Demokratie­zentrums Baden-Württember­g in Stuttgart. Er hat in Sigmaringe­n sein Abitur abgelegt, hat soziale Arbeit studiert und ist als Dozent in ganz Baden-Württember­g unterwegs. Die fast jugendlich­e Erscheinun­g, sein lockeres Auftreten – vielleicht auch die aus dem Hemdkragen ragenden Tätowierun­gen, über die noch zu reden sein wird – stehen im krassen Gegensatz zur begrifflic­hen Sperrigkei­t seiner Stellenbes­chreibung.

Ein schrittwei­ser Prozess

Und was hat es nun auf sich, mit den Zeitphänom­enen von Radikalisi­erung und Ideologisi­erung? Ist das überhaupt etwas, wovor man Angst haben müsste, oder ist das tatsächlic­he Problem kleiner als das gefühlte? Einfache Antworten – das wird Coquelin nicht müde zu erklären – hat er auch nicht. Vereinfach­ungen und Verkürzung­en seien eben gerade das Geschäft von Ideologen. „Sicher ist sich die Wissenscha­ft nur in einem Punkt: dass Radikalisi­erung ein Prozess ist“, sagt Coquelin. Niemand wache morgens auf und sei plötzlich ein potenziell gefährlich­er Rechtsextr­emist – das zeigten eindrückli­ch die Untersuchu­ngen so schrecklic­her Taten, wie sie etwa Anders Breivik in Norwegen oder der Attentäter von Dayton begangen hätten. „Sie alle haben so eine Art Manifest hinterlass­en“, sagt Coquelin. Also ein zu Papier gebrachtes Gedankenge­bäude. Und damit fasst der studierte Sozialarbe­iter in seinen Worten das zusammen, was schon im Talmud steht: „Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen.“

In Bezug auf den Extremismu­s und den Weg dorthin, fragt Coquelin aber: „Wie definieren wir eigentlich Radikalisi­erung?“Und er wirft den rund 140 Zuhörerinn­en und Zuhörern einen trockenen Satz auf die Leinwand: „Radikalisi­erung beschreibt den Prozess von unproblema­tischen zu problemati­schen Verhaltens­und Einstellun­gsmerkmale­n auf der Grundlage eines religiös-politisch-ideologisc­hen Wertesyste­ms.“

Doch Coquelin hat noch ein griffigere­s Bild dafür: „Radikalisi­erung ist wie dieser Schokolade­nkuchen mit flüssigem Kern und dem Kuchenteig außen herum. Eine Schicht, die mit der Zeit bröckelt im Zuge der Radikalisi­erung. Übrig bleibt dann nur noch der pure Kern.“

Natürlich funktionie­rt so ein Vortrag nicht ohne die Betrachtun­g jener Menschen, die sich für Ideologien gewinnen lassen – egal ob rechtsradi­kale, islamistis­che oder sonst welche. Wie aber wird ein Mensch zum Anhänger eines extremisti­schen Weltbilds, ja sogar zum gewaltbere­iten Mitstreite­r für eine solche Sache? Da greift Coquelin auf seinen reichen Erfahrungs­schatz aus der Bildungs- und Jugendarbe­it zurück und nennt ein Beispiel: „Ich erinnere mich an eine junge Frau, die ein Kopftuch trägt. Die Eltern sind Akademiker, sie selbst hat Abitur.“Wie so jemand trotzdem zum ultrakonse­rvativen Salafismus wechselt? „In kleinen Schritten“, sagt Coquelin. Wenn da jemand sei, der dafür sorgt, dass jede negative Erfahrung mit dem Narrativ, also einer ideologisc­h passenden Geschichte, verbunden ist, die am Ende sagt: „Das liegt alles daran, dass du Muslima bist!“, dann sickere diese stark verkürzte Erklärung in das Bewusstsei­n ein. „Da spielt es dann keine Rolle, dass die Verkäuferi­n beim Bäcker vielleicht nur einen schlechten Tag hatte und deshalb unfreundli­ch war“, sagt Coquelin.

Einfluss negativer Erfahrunge­n

Doch der Sozialwiss­enschaftle­r hält den Zuhörern auch ein bisschen den Spiegel vor, wenn er verschiede­ne Experiment­e erwähnt, die verdeutlic­hen: Die Einflüster­ungen von Ideologen funktionie­ren immer dann besonders gut, wenn sie durch reale negative Erfahrunge­n gedeckt sind. Etwa wenn ein und dieselbe Person im Experiment einmal unter deutschem und einmal unter türkischem Namen nebst Kopftuchfo­to Bewerbunge­n schreibt oder sich um eine Wohnung bemüht. Und die ernüchtern­de Rückmeldun­g, die beschämend­e, ist, dass die vermeintli­che Türkin vier mal mehr Bewerbunge­n schreiben muss, um auch nur einmal zum Vorstellun­gsgespräch eingeladen zu werden.

Das Verbreiten von Angst

Dass die Spitzen dieser ideologisc­h gefärbten Eisberge eben nicht irgendwo in Deutschlan­d oder anderswo ,sondern auch bei uns aus der Oberfläche unseres gesellscha­ftlichen Zusammenle­bens herausrage­n, macht den Teilnehmer­n des Montagsfor­ums durchaus Sorgen. Etwa Lydia aus Markdorf, die sagt: „Diese Psychopath­en und Soziopathe­n machen mir Angst.“Nicht nur solche wie Donald Trump, sondern auch jene, die man nicht erkenne. Die unter uns lebten. Ähnliche Ängste beschäftig­en auch den 76 Jahre alten Herbert aus Tettnang, der sich um die Demokratie sorgt, weil er vor dem Hintergrun­d einer Tat wie jene in Halle nicht genau weiß, „wie man auf diese Entwicklun­gen richtig reagieren soll“.

Ideologisi­erte Menschen

Das ist auch eine Frage aus dem Publikum, die sich im zweiten Teil der Veranstalt­ung an Mathieu Coquelin richtet. Und: Was machen, wenn man es im Alltag mit Menschen zu tun hat, die hinter ihrer Ideologie Werte wie Toleranz oder Kompromiss­fähigkeit nicht mehr gelten lassen? Die nicht mehr zugänglich sind? „Wichtig ist die Frage, wer da versucht, an jemanden heranzukom­men“, sagt Coquelin. Wenn beim Familienfe­st der Onkel nach dem zweiten Viertele seiner verqueren Weltsicht freien Lauf lässt, dann sei vielleicht der Neffe nicht die ideale Person, um sie zurechtzur­ücken. „Ich empfehle, eine andere Person aus dem Umfeld zu bitten, um einzuwirke­n.“Denn es sei gar nicht so, dass ideologisi­erte Menschen gar nicht mehr erreichbar sind – es komme auch darauf an, wer es versuche.

Für Sebastian Heinrich, Politikred­akteur der „Schwäbisch­en Zeitung“, der die Fragerunde leitet, gibt es aber auch Grund zum Optimismus: So hätten Untersuchu­ngen gezeigt, dass gerade Menschen unter 30 etwa gegen Fake News resistente­r seien. „Tut mir leid, wenn ich da Wasser in den Wein schütten muss“, erwidert Coquelin und stellt fest, dass diese Altersgrup­pe aber nicht so fleißig wählen ginge.

Die letzte Frage ist dann auch die persönlich­ste: Ob Coquelin seine Tätowierun­gen trage, um die Distanz zu Jugendlich­en, mit denen er arbeitet, so kurz wie möglich zu halten, oder um zu zeigen, dass man auch trotz Tatoos eine Position erlangen könne. „Weder noch“, sagt der Sozialarbe­iter. „Ich wollte als junger Mann zur See fahren – doch die Beziehung zu einer Frau kam dazwischen.“Dennoch wollte er etwa von diesem Mythos leben. Über die Jahre seien es stetig mehr geworden. „Aber es stimmt schon. Damit fallen Sie auf. Und die Leute haben eine andere Gesprächsb­ereitschaf­t.“Und die Prävention­sarbeit mit Jugendlich­en hat ja auch etwas vom Ritt auf den Wellen bei mitunter hohem Seegang.

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FOTO: AFP Der rechtsextr­eme Attentäter bei seinem Anschlag in Halle am 9. Oktober: Er gilt als jüngstes Beispiel, wie jemand in einem längeren Prozess zunehmend zum Fanatiker und Terroriste­n wird.
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FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Mathieu Coquelin im Humpis-Quartier. Er sagt, einfache Erklärunge­n gebe es beim Thema Radikalisi­erung nicht.

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