Mit Pragmatismus gegen Extremismus
Präventionsexperte Mathieu Coquelin erklärt im Ravensburger Humpis-Quartier den Umgang mit Fanatikern
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RAVENSBURG - Natürlich kann man es beim vierten Semester des Montagsforums im Humpis-Quartier mit der Angst bekommen. Denn die gesamte Bildungsreihe befasst sich mit Phänomenen unserer Zeit, die Menschen das Fürchten lehren – gerade auf dem Gebiet jener Dinge, die sich nicht so einfach greifen lassen. Das gilt in besonderem Maße für den Vortrag von Mathieu Coquelin, der eine Gesellschaft unter Strom zum Thema macht. Und damit einen Sprung ins Spannungsfeld radikaler Ideologien wagt, die in unsere Gegenwart einsickern. Wie ein wirkmächtiges Gift, das nur dann richtig sicht- und spürbar wird, wenn jemand – naiv oder blitzgescheit – eine bestimmte Dosis davon eingesogen hat. Und wenn die überwiegende Mehrheit Ideologien nur lange genug ignoriert hat, weil aberwitzige Thesen dem Abgleich mit der Realität nicht standhalten und deshalb den rational Denkenden in Sicherheit wiegt. Was bei Ideologen bisweilen oft genug aber genau den gegenteiligen Effekt hat. Frei nach dem Motto: Wenn nur genügend Leute überzeugt sind, dass etwas nie und nimmer sein kann, wird dann schon was dran sein.
Aber wer ist eigentlich dieser Mathieu Coquelin, der da mit seinen 37 Jahren im eleganten Dreiteiler über die Bühne federt, und der damit zumindest altersmäßig ein Kontrastprogamm zu seinem aufmerksamen Publikum bildet? Er ist Leiter der Fachstelle für Extremismusdistanzierung des staatlich geförderten Demokratiezentrums Baden-Württemberg in Stuttgart. Er hat in Sigmaringen sein Abitur abgelegt, hat soziale Arbeit studiert und ist als Dozent in ganz Baden-Württemberg unterwegs. Die fast jugendliche Erscheinung, sein lockeres Auftreten – vielleicht auch die aus dem Hemdkragen ragenden Tätowierungen, über die noch zu reden sein wird – stehen im krassen Gegensatz zur begrifflichen Sperrigkeit seiner Stellenbeschreibung.
Ein schrittweiser Prozess
Und was hat es nun auf sich, mit den Zeitphänomenen von Radikalisierung und Ideologisierung? Ist das überhaupt etwas, wovor man Angst haben müsste, oder ist das tatsächliche Problem kleiner als das gefühlte? Einfache Antworten – das wird Coquelin nicht müde zu erklären – hat er auch nicht. Vereinfachungen und Verkürzungen seien eben gerade das Geschäft von Ideologen. „Sicher ist sich die Wissenschaft nur in einem Punkt: dass Radikalisierung ein Prozess ist“, sagt Coquelin. Niemand wache morgens auf und sei plötzlich ein potenziell gefährlicher Rechtsextremist – das zeigten eindrücklich die Untersuchungen so schrecklicher Taten, wie sie etwa Anders Breivik in Norwegen oder der Attentäter von Dayton begangen hätten. „Sie alle haben so eine Art Manifest hinterlassen“, sagt Coquelin. Also ein zu Papier gebrachtes Gedankengebäude. Und damit fasst der studierte Sozialarbeiter in seinen Worten das zusammen, was schon im Talmud steht: „Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen.“
In Bezug auf den Extremismus und den Weg dorthin, fragt Coquelin aber: „Wie definieren wir eigentlich Radikalisierung?“Und er wirft den rund 140 Zuhörerinnen und Zuhörern einen trockenen Satz auf die Leinwand: „Radikalisierung beschreibt den Prozess von unproblematischen zu problematischen Verhaltensund Einstellungsmerkmalen auf der Grundlage eines religiös-politisch-ideologischen Wertesystems.“
Doch Coquelin hat noch ein griffigeres Bild dafür: „Radikalisierung ist wie dieser Schokoladenkuchen mit flüssigem Kern und dem Kuchenteig außen herum. Eine Schicht, die mit der Zeit bröckelt im Zuge der Radikalisierung. Übrig bleibt dann nur noch der pure Kern.“
Natürlich funktioniert so ein Vortrag nicht ohne die Betrachtung jener Menschen, die sich für Ideologien gewinnen lassen – egal ob rechtsradikale, islamistische oder sonst welche. Wie aber wird ein Mensch zum Anhänger eines extremistischen Weltbilds, ja sogar zum gewaltbereiten Mitstreiter für eine solche Sache? Da greift Coquelin auf seinen reichen Erfahrungsschatz aus der Bildungs- und Jugendarbeit zurück und nennt ein Beispiel: „Ich erinnere mich an eine junge Frau, die ein Kopftuch trägt. Die Eltern sind Akademiker, sie selbst hat Abitur.“Wie so jemand trotzdem zum ultrakonservativen Salafismus wechselt? „In kleinen Schritten“, sagt Coquelin. Wenn da jemand sei, der dafür sorgt, dass jede negative Erfahrung mit dem Narrativ, also einer ideologisch passenden Geschichte, verbunden ist, die am Ende sagt: „Das liegt alles daran, dass du Muslima bist!“, dann sickere diese stark verkürzte Erklärung in das Bewusstsein ein. „Da spielt es dann keine Rolle, dass die Verkäuferin beim Bäcker vielleicht nur einen schlechten Tag hatte und deshalb unfreundlich war“, sagt Coquelin.
Einfluss negativer Erfahrungen
Doch der Sozialwissenschaftler hält den Zuhörern auch ein bisschen den Spiegel vor, wenn er verschiedene Experimente erwähnt, die verdeutlichen: Die Einflüsterungen von Ideologen funktionieren immer dann besonders gut, wenn sie durch reale negative Erfahrungen gedeckt sind. Etwa wenn ein und dieselbe Person im Experiment einmal unter deutschem und einmal unter türkischem Namen nebst Kopftuchfoto Bewerbungen schreibt oder sich um eine Wohnung bemüht. Und die ernüchternde Rückmeldung, die beschämende, ist, dass die vermeintliche Türkin vier mal mehr Bewerbungen schreiben muss, um auch nur einmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.
Das Verbreiten von Angst
Dass die Spitzen dieser ideologisch gefärbten Eisberge eben nicht irgendwo in Deutschland oder anderswo ,sondern auch bei uns aus der Oberfläche unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens herausragen, macht den Teilnehmern des Montagsforums durchaus Sorgen. Etwa Lydia aus Markdorf, die sagt: „Diese Psychopathen und Soziopathen machen mir Angst.“Nicht nur solche wie Donald Trump, sondern auch jene, die man nicht erkenne. Die unter uns lebten. Ähnliche Ängste beschäftigen auch den 76 Jahre alten Herbert aus Tettnang, der sich um die Demokratie sorgt, weil er vor dem Hintergrund einer Tat wie jene in Halle nicht genau weiß, „wie man auf diese Entwicklungen richtig reagieren soll“.
Ideologisierte Menschen
Das ist auch eine Frage aus dem Publikum, die sich im zweiten Teil der Veranstaltung an Mathieu Coquelin richtet. Und: Was machen, wenn man es im Alltag mit Menschen zu tun hat, die hinter ihrer Ideologie Werte wie Toleranz oder Kompromissfähigkeit nicht mehr gelten lassen? Die nicht mehr zugänglich sind? „Wichtig ist die Frage, wer da versucht, an jemanden heranzukommen“, sagt Coquelin. Wenn beim Familienfest der Onkel nach dem zweiten Viertele seiner verqueren Weltsicht freien Lauf lässt, dann sei vielleicht der Neffe nicht die ideale Person, um sie zurechtzurücken. „Ich empfehle, eine andere Person aus dem Umfeld zu bitten, um einzuwirken.“Denn es sei gar nicht so, dass ideologisierte Menschen gar nicht mehr erreichbar sind – es komme auch darauf an, wer es versuche.
Für Sebastian Heinrich, Politikredakteur der „Schwäbischen Zeitung“, der die Fragerunde leitet, gibt es aber auch Grund zum Optimismus: So hätten Untersuchungen gezeigt, dass gerade Menschen unter 30 etwa gegen Fake News resistenter seien. „Tut mir leid, wenn ich da Wasser in den Wein schütten muss“, erwidert Coquelin und stellt fest, dass diese Altersgruppe aber nicht so fleißig wählen ginge.
Die letzte Frage ist dann auch die persönlichste: Ob Coquelin seine Tätowierungen trage, um die Distanz zu Jugendlichen, mit denen er arbeitet, so kurz wie möglich zu halten, oder um zu zeigen, dass man auch trotz Tatoos eine Position erlangen könne. „Weder noch“, sagt der Sozialarbeiter. „Ich wollte als junger Mann zur See fahren – doch die Beziehung zu einer Frau kam dazwischen.“Dennoch wollte er etwa von diesem Mythos leben. Über die Jahre seien es stetig mehr geworden. „Aber es stimmt schon. Damit fallen Sie auf. Und die Leute haben eine andere Gesprächsbereitschaft.“Und die Präventionsarbeit mit Jugendlichen hat ja auch etwas vom Ritt auf den Wellen bei mitunter hohem Seegang.