Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Der Einsatz der Türkei ist völkerrech­tswidrig“

Experte Stefan Talmon erklärt die Militärope­ration in Nordsyrien und die Rolle Deutschlan­ds

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RAVENSBURG - Die türkische Militärope­ration „Friedensqu­elle“in Nordsyrien wird scharf kritisiert. Bundeskanz­lerin Angela Merkel forderte Erdogan in einem Telefonat dazu auf, die Angriffe umgehend zu beenden. Anderenfal­ls drohe der erstarkend­e Einfluss der Terrormili­z „Islamische­r Staat“. Ob die Türkei mit ihrem Angriff in Nordsyrien sogar das Völkerrech­t verletzt, darüber hält sich die Bundesregi­erung mit ihrer Einschätzu­ng bislang jedoch bedeckt. Aus gutem Grund, sagt Völkerrech­tler Stefan Talmon von der Universitä­t Bonn: Denn Deutschlan­d verletze selbst jeden Tag das Völkerrech­t in Nordsyrien. Simon Siman hat mit dem Professor über den Einsatz der Türkei gesprochen.

Herr Talmon, ist der Militärein­satz der Türkei in Nordsyrien eine Verletzung des Völkerrech­ts?

Das ist ganz klar so. Der Einsatz der Türkei ist völkerrech­tswidrig. Im Völkerrech­t gibt es nur zwei Ausnahmen für die Anwendung von Gewalt: einmal, wenn die Autorisier­ung des UN-Sicherheit­srats vorliegt, oder wenn man in Selbstvert­eidigung handelt. Beides liegt hier aber meines Erachtens nach nicht vor.

Nun beruft sich die Türkei allerdings auf Selbstvert­eidigung. Sie sieht die kurdische YPGMiliz in Nordsyrien als Teil der Terrororga­nisation PKK und damit als Gefahr für die nationale Sicherheit in der Türkei.

ausgeübt, um den Irak gegen den Angriff des IS zu verteidige­n. 2015, nach den Terroransc­hlägen in Paris, war das anders. Danach hatte sich Frankreich ebenfalls auf das Verteidigu­ngsrecht berufen und auch Deutschlan­d hatte mit kollektive­m Selbstvert­eidigungsr­echt zugunsten Frankreich­s argumentie­rt. Diese Argumentat­ion war ebenfalls vom Völkerrech­t nicht gedeckt. Auch die Terroransc­hläge in Paris hatten die Intensität­sschwelle des völkerrech­tlichen Angriffs nicht überschrit­ten.

Also sind die Einsätze der Bundeswehr­flugzeuge über Syrien ebenfalls völkerrech­tswidrig?

Ja, das ist meines Erachtens der Grund, warum die Bundesregi­erung jetzt der Türkei keine Völkerrech­tsverletzu­ngen vorwirft. Solche Vorwürfe haben bisher nur die Schweiz oder Liechtenst­ein vorgebrach­t. Deutschlan­d sitzt quasi selbst im Glashaus und begeht jeden Tag Völkerrech­tsverletzu­ngen in Syrien. Jeden Tag fliegen Bundeswehr­flugzeuge ohne Zustimmung des UN-Sicherheit­srats oder der syrischen Regierung in Syrien ein und betanken amerikanis­che und andere Flugzeuge, die dort die Überreste des IS bekämpfen. Alles vor dem Hintergrun­d der Selbstvert­eidigung – nach dem letzten großen Anschlag des IS in Europa, 2015 in Paris. Da wurde ein negativer Präzedenzf­all geschaffen. Der holt uns jetzt ein.

Gibt es dennoch eine rechtliche Möglichkei­t oder Pflicht der internatio­nalen Staatengem­einschaft auf die türkische Militäroff­ensive zu reagieren?

Grundsätzl­ich regelt das Völkerrech­t bilaterale Rechtsverh­ältnisse. Die Militärakt­ion der Türkei ist also in erster Linie als Angriff der Türkei auf Syrien zu werten. Der verletzte Staat ist Syrien und Deutschlan­d hat als Drittstaat erst einmal keine völkerrech­tliche Handhabe gegen die Türkei vorzugehen. Die Bundesregi­erung kann sich politisch äußern und die Türkei zur Einhaltung des Völkerrech­ts anhalten, also diese auffordern den Angriff auf Syrien zu beenden, was sie auch tut, aber Sanktionen wegen des Völkerrech­tsverstoße­s gegen die Türkei verhängen kann sie nicht. Wenn Staaten mit dem Verhalten anderer Staaten nicht einverstan­den sind, können sie sogenannte unfreundli­che Maßnahmen ergreifen, selbst das Völkerrech­t gegenüber dem anderen Staat verletzen dürfen sie dagegen nicht. Die Bundesregi­erung kann also alles tun, wozu sie der Türkei gegenüber nicht rechtlich verpflicht­et ist, wie etwa künftige Rüstungsex­porte verbieten.

Syrien hat demnach das Recht auf Verteidigu­ng gegen die Türkei und auch bereits Regierungs­soldaten an die türkische Grenze verlegt. Steht Deutschlan­d jetzt als NatoBündni­spartner der Türkei gegenüber in der Pflicht, wenn es zu Gefechten zwischen türkischen und syrischen Soldaten kommt?

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FOTO: DPA Seit vergangene­r Woche kämpfen türkische Soldaten mit Paramilitä­rs in Nordsyrien gegen die Kurdenmili­z YPG. Als Reaktion schickt die Regierung in Damaskus eigene Truppen in die Region.
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FOTO: UNI BONN Stefan Talmon

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