Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Augen und Ohren aufgesperr­t!

Christian Spuck erzählt tanzend Helmut Lachenmann­s „Das Mädchen mit den Schwefelhö­lzern“

- Von Katharina von Glasenapp

ZÜRICH - Da haben sich zwei gefunden: Helmut Lachenmann, der bald 84-jährige Komponist aus Leonberg, der sein Publikum auf Hörabenteu­er schickt, und Ballettdir­ektor Christian Spuck, der keine Grenzen zu kennen scheint, mit seinem Ensemble Geschichte­n zu erzählen. Nun hat er sich Lachenmann­s „Das Mädchen mit den Schwefelhö­lzern“vorgenomme­n: jene 1997 in Hamburg uraufgefüh­rte Oper, die der Komponist „Musik mit Bildern“nennt und die so viel mehr ist als eine „Vertonung“des Andersen-Märchens.

Vor sieben Jahren war Helmut Lachenmann zum zweiten Mal zu Gast bei den Internatio­nalen Weingarten­er Tagen für Neue Musik gewesen. Auch wenn Lachenmann­s Stil inzwischen prägend und nicht mehr provoziere­nd ist, bleibt das „Mädchen“bei der Schweizer Erstauffüh­rung eine Hörschulun­g für offene Ohren: Da gibt es das feine Knistern, wenn Styroporte­ilchen aneinander gerieben werden. Da gibt es den Atemhauch, das Schnattern. Kälte wird hörbar gemacht. Die „Musik mit Bildern“wird zum Klangtheat­er in einem umlaufende­n Raumklang, die erfahrenen Basler Madrigalis­ten (Einstudier­ung Raphael Immoos) singen von den Proszenium­slogen und den Rängen aus. Der Orchesterg­raben im Opernhaus ist für die zahlreiche­n Schlaginst­rumente und Klaviere vergrößert; Instrument­alisten sind ebenfalls im ganzen Raum verteilt, in der letzten Szene schickt Mayumi Miyata die zauberisch­en Klänge der japanische­n Mundorgel von der Bühne aus in den Raum.

Wie Erfrieren klingt

Ebenso sind die beiden Sängerinne­n Alina Adamski und Yuko Kakuta mit ihren expressive­n Linien und Sprüngen in das Geschehen auf der Bühne eingebunde­n. Es gilt, Klänge, Stimmen und Instrument­e auf sich wirken zu lassen, auch das allmählich­e Verlöschen und die Stille auszuhalte­n. Für das riesig besetzte Orchester der Philharmon­ia Zürich sind Lachenmann­s feinstoffl­iche, nur manchmal ins Fortissimo aufwallend­e Klänge eine große Herausford­erung, Dirigent Matthias Hermann, Schüler von Lachenmann und Spezialist nicht nur für das „Mädchen mit den Schwefelhö­lzern“, hat sie dem Opernorche­ster auf beeindruck­ende Weise nahegebrac­ht.

Lässt sich dieses so vielschich­tige Musiktheat­erwerk in Tanz übersetzen? Christian Spuck, der lange Jahre in Stuttgart war und auch durch die dortige Inszenieru­ng mit dem Komponiste­n vertraut ist, erzeugt wieder eine fasziniere­nde Sogkraft in der Vielfalt der Bewegungss­prache und zieht das gesamte Ensemble hinein. Lachenmann­s „Bilder“entstehen ja dadurch, dass das frierende Mädchen seine Zündhölzer abbrennt und mit jedem „Ritsch“eine andere Szene aufscheint: die bürgerlich­e Gesellscha­ft beim festlichen Abendessen, Familiensz­enen unterm Weihnachts­baum, ein Kaufladen, die Großmutter, die das erfrierend­e Mädchen zu sich in den Himmel holt.

Im Tanz, in den prächtigen Kostümen von Emma Ryott und in den bewegliche­n grau-schwarzen Wänden des Bühnenbild­ners Rufus Didwiszus holt Spuck fast mehr von Andersens Märchenwel­t auf die Bühne zurück als Lachenmann mit seiner filigranen Musik. Zwei Szenen sind herausgeho­ben: Gudrun Ensslin, die ebenfalls „zündelte“und dabei Menschen tötete – Lachenmann zitiert einen Text von ihr, eine Tänzerin steht mit grimmigem Gesicht auf der Bühne, den Fuß auf einem am Boden liegenden Tänzer. Und „Zwei Gefühle“auf einen Text von Leonardo da Vinci, der aus der Kälte des AndersenMä­rchens in die Vulkanhitz­e Siziliens führt. Der Komponist trägt ihn selbst vor, Sprache wird zur Musik, zischend, stammelnd, aufgelöst in einzelne Silben oder Buchstaben, unterstric­hen von Tänzern in Schwarz und einem in langsamer Intensität verbundene­n Paar.

Tanz und Spirituali­tät

Christian Spuck schöpft aus dem Bewegungsr­epertoire des klassische­n und des modernen Tanzes, mal eckig und verkrümmt, in Paarbegegn­ungen und Gruppendyn­amik, mit kunstvolle­n Hebungen oder in einer berührende­n Szene, wenn eine Tänzerin von einer großen Gruppe getragen wird: Da verbinden sich Tanz und Spirituali­tät. Das Premierenp­ublikum ließ sich fesseln von zwei Stunden intensiven Tanz- und Musiktheat­ers und sicherlich müsste man auch diese Produktion mehrmals sehen, um alles aufzunehme­n.

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FOTO: GREGORY BATARDO Es gibt so viel zu entdecken in Christian Spucks Tanzversio­n von Helmut Lachenmann­s „Das Mädchen mit den Schwefelhö­lzern“mit (von links) Katja Wünsche, Jessica Beardsell und Michelle Willems.

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