Türkei greift weiter an
Präsident Erdogan unbeeindruckt von US-Sanktionen
ISTANBUL/DAMASKUS/WASHINGTON (dpa/AFP) - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat seine Militäroffensive im Nachbarland Syrien ungeachtet der angekündigten US-Sanktionen unbeirrt fortgesetzt. In Nordsyrien lieferte sich die türkische Armee auch am Dienstag weiter erbitterte Gefechte mit der Kurdenmiliz YPG. Die Forderung von US-Präsident Donald Trump nach einer sofortigen Waffenruhe blieb folgenlos. US-Truppen setzten sich unterdessen aus der Stadt Manbidsch Richtung Irak ab. Für sie rückten direkt russisches Militär und Einheiten der syrischen Armee von Präsident Baschar al-Assad nach.
Um der Forderung Trumps mehr Nachdruck zu verleihen, reist US-Vizepräsident Mike Pence in Kürze in die Türkei. Er soll dort für die Waffenruhe werben. In Washington hieß es am Dienstag, Pence werde „in den kommenden 24 Stunden“aufbrechen.
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ISTANBUL - Donald Trump tut derzeit alles, um die Türken in ihrem Hang zu Verschwörungstheorien zu bestärken. Dass der US-Präsident zuerst grünes Licht für den türkischen Einmarsch in Syrien gibt und dann Sanktionen erlässt, um diesen wieder zu stoppen, versteht schon in Washington niemand – wie sollte dann erst die türkische Regierung daraus schlau werden. Trumps Sanktionen stoßen die türkische Wirtschaft nun zwar tiefer in die Krise. Dennoch dürfte Präsident Recep Tayyip Erdogan innenpolitisch erst einmal profitieren, denn die Strafen bestätigen viele Türken in der Ansicht, der Westen wolle ihr Land kleinkriegen. Auch die militärische Lage in Nordsyrien nützt Erdogan, denn wie bei den Wirtschaftssanktionen dürften die Nachteile für die Türkei erst mit Verzögerung sichtbar werden. Mittelfristig könnte es für den Präsidenten allerdings politisch gefährlich werden.
Eine Woche nach dem Beginn der Offensive werden erste Warnzeichen für die Türkei sichtbar. Die amerikanischen Sanktionen schonen zwar den wichtigen türkischen Bankensektor, doch hat der Krieg das internationale Ansehen des Landes weiter geschädigt. Die Entscheidung von Volkswagen, die Vorbereitungen zur Eröffnung eines Werkes in der Türkei vorerst zu stoppen, ist ein Zeichen dafür. Staatskredite werden für die Türkei teurer, das Handelsabkommen mit den USA liegt auf Eis.
Auch in militärischer Hinsicht läuft längst nicht alles nach Plan. Die Armee und die mit ihr verbündeten syrischen Rebellengruppen sind zwar an einigen Stellen tief in syrisches Territorium vorgedrungen und haben ihrem Gegner, der Kurdenmiliz YPG, schmerzliche Niederlagen beigebracht. Doch der Rückzug der USA und das Not-Bündnis der YPG mit der syrischen Regierung in Damaskus haben die Lage für die Türkei nicht einfacher gemacht, im Gegenteil. Russland, unverzichtbarer Partner Ankaras im SyrienKonflikt, nannte den türkischen Vorstoß am Dienstag „inakzeptabel“.
Russland will mitmischen
Dass Erdogan in Nordsyrien nicht tun kann, was er will, zeigt sich in der Stadt Manbidsch am Euphrat. Die Türkei wollte sie einnehmen, doch das Moskauer Verteidigungsministerium erklärte am Dienstag, die Stadt sei nach dem Abzug der US-Truppen unter vollständiger Kontrolle der syrischen Armee und des russischen Militärs. Der Kreml dürfte nun darauf hinarbeiten, dass sich die türkische und die syrische Regierung an einen Tisch setzen – was Erdogan ablehnt.
Alle ihre hochgesteckten Ziele wird die türkische Regierung in Syrien nicht erreichen können, was angesichts der von ihr selbst geweckten Erwartungen zum innenpolitischen Problem werden könnte. So ist es sehr unwahrscheinlich, dass Erdogan zwei Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei in den Norden Syriens umsiedeln kann. Abgesehen von den rechtlichen Fragen und dem Vorwurf, die Türkei wolle die Kurden in Nordsyrien durch die Ansiedlung arabischer Syrer zur Minderheit machen, findet sich derzeit niemand, der die gewaltigen Kosten von mehr als 20 Milliarden Euro übernehmen würde. Erdogans innenpolitisches Kalkül ruht auf einem wackeligen Fundament.
Der Präsident will mit dem Feldzug das informelle Bündnis der bürgerlichen Oppositionsparteien mit der Kurdenpartei HDP zerstören – jene Allianz, die ihm die Wahlniederlagen in Istanbul und anderswo zugefügt hat. Die Bürgerlichen unterstützen die Syrien-Offensive und stoßen so die HDP vor den Kopf. Doch große Differenzen in der Kurdenpolitik gab es zwischen der HDP und dem Rest der Opposition schon lange vor dem Einmarsch, ohne dass dies ihre taktische Zusammenarbeit gegen Erdogans AKP als gemeinsamen Gegner verhindert hätte. Wichtige Gründe für den Erfolg der Opposition im Frühjahr – schlechte Wirtschaftslage und Korruption – dürften auch nach dem Ende der Intervention fortbestehen. Trumps Wirtschaftssanktionen und die militärischen Erfolge in Syrien mögen Erdogan derzeit innenpolitisch helfen. Eine Erfolgsgarantie für den Präsidenten sind sie nicht.