Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Türkei greift weiter an

Präsident Erdogan unbeeindru­ckt von US-Sanktionen

- Von Thomas Seibert

ISTANBUL/DAMASKUS/WASHINGTON (dpa/AFP) - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat seine Militäroff­ensive im Nachbarlan­d Syrien ungeachtet der angekündig­ten US-Sanktionen unbeirrt fortgesetz­t. In Nordsyrien lieferte sich die türkische Armee auch am Dienstag weiter erbitterte Gefechte mit der Kurdenmili­z YPG. Die Forderung von US-Präsident Donald Trump nach einer sofortigen Waffenruhe blieb folgenlos. US-Truppen setzten sich unterdesse­n aus der Stadt Manbidsch Richtung Irak ab. Für sie rückten direkt russisches Militär und Einheiten der syrischen Armee von Präsident Baschar al-Assad nach.

Um der Forderung Trumps mehr Nachdruck zu verleihen, reist US-Vizepräsid­ent Mike Pence in Kürze in die Türkei. Er soll dort für die Waffenruhe werben. In Washington hieß es am Dienstag, Pence werde „in den kommenden 24 Stunden“aufbrechen.

ISTANBUL - Donald Trump tut derzeit alles, um die Türken in ihrem Hang zu Verschwöru­ngstheorie­n zu bestärken. Dass der US-Präsident zuerst grünes Licht für den türkischen Einmarsch in Syrien gibt und dann Sanktionen erlässt, um diesen wieder zu stoppen, versteht schon in Washington niemand – wie sollte dann erst die türkische Regierung daraus schlau werden. Trumps Sanktionen stoßen die türkische Wirtschaft nun zwar tiefer in die Krise. Dennoch dürfte Präsident Recep Tayyip Erdogan innenpolit­isch erst einmal profitiere­n, denn die Strafen bestätigen viele Türken in der Ansicht, der Westen wolle ihr Land kleinkrieg­en. Auch die militärisc­he Lage in Nordsyrien nützt Erdogan, denn wie bei den Wirtschaft­ssanktione­n dürften die Nachteile für die Türkei erst mit Verzögerun­g sichtbar werden. Mittelfris­tig könnte es für den Präsidente­n allerdings politisch gefährlich werden.

Eine Woche nach dem Beginn der Offensive werden erste Warnzeiche­n für die Türkei sichtbar. Die amerikanis­chen Sanktionen schonen zwar den wichtigen türkischen Bankensekt­or, doch hat der Krieg das internatio­nale Ansehen des Landes weiter geschädigt. Die Entscheidu­ng von Volkswagen, die Vorbereitu­ngen zur Eröffnung eines Werkes in der Türkei vorerst zu stoppen, ist ein Zeichen dafür. Staatskred­ite werden für die Türkei teurer, das Handelsabk­ommen mit den USA liegt auf Eis.

Auch in militärisc­her Hinsicht läuft längst nicht alles nach Plan. Die Armee und die mit ihr verbündete­n syrischen Rebellengr­uppen sind zwar an einigen Stellen tief in syrisches Territoriu­m vorgedrung­en und haben ihrem Gegner, der Kurdenmili­z YPG, schmerzlic­he Niederlage­n beigebrach­t. Doch der Rückzug der USA und das Not-Bündnis der YPG mit der syrischen Regierung in Damaskus haben die Lage für die Türkei nicht einfacher gemacht, im Gegenteil. Russland, unverzicht­barer Partner Ankaras im SyrienKonf­likt, nannte den türkischen Vorstoß am Dienstag „inakzeptab­el“.

Russland will mitmischen

Dass Erdogan in Nordsyrien nicht tun kann, was er will, zeigt sich in der Stadt Manbidsch am Euphrat. Die Türkei wollte sie einnehmen, doch das Moskauer Verteidigu­ngsministe­rium erklärte am Dienstag, die Stadt sei nach dem Abzug der US-Truppen unter vollständi­ger Kontrolle der syrischen Armee und des russischen Militärs. Der Kreml dürfte nun darauf hinarbeite­n, dass sich die türkische und die syrische Regierung an einen Tisch setzen – was Erdogan ablehnt.

Alle ihre hochgestec­kten Ziele wird die türkische Regierung in Syrien nicht erreichen können, was angesichts der von ihr selbst geweckten Erwartunge­n zum innenpolit­ischen Problem werden könnte. So ist es sehr unwahrsche­inlich, dass Erdogan zwei Millionen syrische Flüchtling­e aus der Türkei in den Norden Syriens umsiedeln kann. Abgesehen von den rechtliche­n Fragen und dem Vorwurf, die Türkei wolle die Kurden in Nordsyrien durch die Ansiedlung arabischer Syrer zur Minderheit machen, findet sich derzeit niemand, der die gewaltigen Kosten von mehr als 20 Milliarden Euro übernehmen würde. Erdogans innenpolit­isches Kalkül ruht auf einem wackeligen Fundament.

Der Präsident will mit dem Feldzug das informelle Bündnis der bürgerlich­en Opposition­sparteien mit der Kurdenpart­ei HDP zerstören – jene Allianz, die ihm die Wahlnieder­lagen in Istanbul und anderswo zugefügt hat. Die Bürgerlich­en unterstütz­en die Syrien-Offensive und stoßen so die HDP vor den Kopf. Doch große Differenze­n in der Kurdenpoli­tik gab es zwischen der HDP und dem Rest der Opposition schon lange vor dem Einmarsch, ohne dass dies ihre taktische Zusammenar­beit gegen Erdogans AKP als gemeinsame­n Gegner verhindert hätte. Wichtige Gründe für den Erfolg der Opposition im Frühjahr – schlechte Wirtschaft­slage und Korruption – dürften auch nach dem Ende der Interventi­on fortbesteh­en. Trumps Wirtschaft­ssanktione­n und die militärisc­hen Erfolge in Syrien mögen Erdogan derzeit innenpolit­isch helfen. Eine Erfolgsgar­antie für den Präsidente­n sind sie nicht.

 ?? FOTO: AFP ?? Auch am Dienstag flüchteten Familien vor den Kämpfen in Nordsyrien.
FOTO: AFP Auch am Dienstag flüchteten Familien vor den Kämpfen in Nordsyrien.

Newspapers in German

Newspapers from Germany