Zwischen Himmel und Erde
Bei der Deutschen Flugsicherung in Karlsruhe wird ein Großteil des deutschen Luftraums überwacht – Doch es mangelt an Fluglotsen
Lufthansa Cargo 8400 Climb Flight Level 390“, spricht Patrick Happe in sein Headset. Eine Stimme aus dem Nichts wiederholt die exakten Worte. Der Pilot des Flugzeugs, dem Happe die Anweisung zum Steigflug erteilt, bestätigt damit den Befehl. Der Fluglotse hat den Computermonitor, auf dem verschiedenfarbige Symbole Flugzeuge auf ihren Routen abbilden, fest im Blick. Die Maschine ist auf dem Weg von Frankfurt nach Schanghai und befindet sich gerade über Berlin: „In fünf Minuten werde ich diesen Flieger dem polnischen Controller übergeben“, sagt Happe. Der 39Jährige sitzt in der Kontrollzentrale der Deutschen Flugsicherung (DFS) in Karlsruhe. Hier, im sogenannten Center, werden zwei Drittel des oberen Luftraums über Deutschland überwacht. Von hier aus werden den Piloten Routen und Höhen für ihre Flüge vorgegeben. Und es ist viel los am Himmel: Der Luftverkehr in Deutschland hat seit den 1980er-Jahren um rund zehn Prozent zugenommen. Jeden Tag führt die DFS mehr als 9000 Flüge über Deutschland. In Karlsruhe werden pro Jahr 1,8 der rund drei Millionen Flugbewegungen koordiniert. Deshalb sind Menschen wie Happe gefragt: Die DFS wirbt derzeit wieder massiv um Bewerber.
Fliegen als Massenphänomen
Woher kommt der große Bedarf an Lotsen in Zeiten, in denen alle Welt über Flugscham spricht? „Fliegen ist zu einem Massenphänomen geworden, und die Verdichtung am Himmel muss bewältigt werden“, sagt Boris Pfetzing, Pressesprecher der DFS Karlsruhe. Dazu beigetragen hätte auch ein schnelllebiger Markt, der mit niedrigen Preisen stark auf Masse gesetzt hätte. „Neue Reiseziele können dabei relativ schnell an den Start gehen, sogar innerhalb eines halben Jahres.“Die Ausbildung zum Fluglotsen dauert drei bis fünf Jahre, doch der Bedarf kann sich innerhalb eines Jahres ändern.
„Besonders in der Kontrollzentrale Karlsruhe haben wir die Ausbildungsaktivitäten verstärkt und die Auszubildendenzahlen deshalb nach oben geschraubt“, so Pfetzing. Dieses Jahr werden in der DFS demnach 132 junge Menschen ausgebildet, ab 2020 und danach plant die Flugsicherung mit 146 Azubis pro Jahr. Nach Angaben der DFS waren es 2015 und 2016 noch rund 40 Azubis. Um die große Differenz zwischen diesen Zahlen zu verstehen, muss man wissen, dass sie sich an EU-Vorgaben ausrichten. „Die Europäische Union gibt für einen Zeitraum von fünf Jahren Zahlen vor, die als Verkehrsprognose für unsere Bedarfsberechnungen dienen“, sagt Pfetzing. Doch die Planungen wurden von der Realität überholt. Dazu kommt: Wer als Lotse bei der DFS mit ihren rund 5500 Mitarbeitern arbeitet, wird nicht gekündigt. „Einmal eingestellt, gibt es eine Jobgarantie.“Darum könne man auch nicht einfach auf dem Arbeitsmarkt Personal akquirieren: Es gibt nämlich gar keine arbeitslosen Fluglotsen. In Krisenjahren wie 2008 oder 2009 sei man gezwungen gewesen, Personal über verfrühten Ruhestand abzubauen oder Mitarbeitern großzügig Teilzeitarbeit oder Elternzeit zu genehmigen.
Keine Abstriche bei der Sicherheit
Für den Passagier schlägt sich der Mangel an Fluglotsen in den Verspätungen der Flüge nieder. Pfetzing weist aber darauf hin: Von den 14 Minuten, die ein Flugzeug im vergangenen Jahr im Schnitt verspätet war, entfielen weniger als zehn Prozent auf die DFS. „Der
Rest wird unter anderem durch die Gepäckbeförderung, Sicherheitskontrollen und andere Faktoren verursacht.“Wenn es um Sicherheit am Himmel geht, könne die DFS keine Abstriche machen. „Wir haben seit Gründung 1993 keinen einzigen Unfall gehabt. Unser Produkt ist Sicherheit, und das liefern wir in allerhöchster Güte.“Sicherheit sei aber für den Flugpassagier nicht spürbar, sondern selbstverständlich. Verspätungen hingegen seien greifbarer. „Sicherheit hat oberste Priorität. Dafür nehmen wir auch Verspätungen in Kauf.“
Die Atmosphäre in der Kontrollzentrale, einem Raum mit den Dimensionen einer Sporthalle, ist konzentriert. Die Arbeitsplätze mit ihren kantigen Computerbildschirmen, die den Raum links und rechts säumen, wirken nüchtern und funktional.
Die Lotsen arbeiten hier jeweils zu zweit: Patrick Happe ist heute „Executive“und steht als solcher in direkter Verbindung mit den Piloten. Neben ihm sitzt ein Kollege, der als Planer mit den Fluglotsen aus den anderen Sektoren Kontakt hält. Die Besetzung der Tandems ändert sich regelmäßig. Fluglotsen sollten also in der Lage sein, sich schnell auf andere Menschen einzustellen.
Die Entscheidung, Fluglotse zu werden, fiel bei Happe nach dem Abitur. Bei der Bundeswehr interessierte sich der zweifache Vater für den fliegerischen Dienst, doch Pilot kam für ihn nicht infrage: „Ich wollte nicht im Cockpit eingesperrt und so oft lange von meiner Frau und den Kindern getrennt sein.“Ihm sei ein Zuhause wichtig, in das er abends zurückkommt. „Und dann dachte ich mir: Warum soll ich den Beruf des Fluglotsen beim Militär machen, wenn es auch zivil geht?“Nach dem Ausbildungsstart 2001 kam er zunächst nach Berlin, wechselte 2005 nach Karlsruhe. Inzwischen trägt er als Wachleiter Führungsverantwortung. Sein Arbeitstag beginnt manchmal um 5 Uhr. Dann startet die früheste Schicht.
Am Anfang des Arbeitstags steht dabei die Übergabe nach der Kurzformel „WEST“: Weather, Equipment, Situation, Traffic. Vom Wetter bis zur aktuellen Verkehrslage werden alle Besonderheiten besprochen. Nach zwei Stunden muss Happe die erste Pause einlegen. Fernsehraum, Billard, Tischkicker – wie die Lotsen ihre Pausen verbringen, ist unterschiedlich.
Die Schichten sind dann gestaffelt und gewährleisten, dass der Luftraum 24 Stunden am Tag überwacht wird, sieben Tage die Woche. Nach fünf Tagen in Folge hat Happe drei Tage frei.
Fluglotsen sind im Hintergrund tätig, meistens bekommen die Flugpassagiere kaum etwas von ihrer Arbeit mit – doch ohne sie käme der Flugverkehr zum Erliegen. Am sichtbarsten sind wohl die Tower-Lotsen am Flughafen. „Kein Flugzeug startet seine Motoren, ohne unter der Kontrolle der Lotsen zu sein“, erklärt Pfetzing. Auch wenn sich das Flugzeug übers Rollfeld bewegt, sind die Lotsen involviert. Es gibt 16 Tower der DFS, im kleinsten arbeiten rund zehn Menschen, im größten in Frankfurt rund 90 Personen.
Viele verwechseln etwas Grundsätzliches: „Oft werden Fluglotsen gefragt, ob es nicht kalt ist, wenn sie den ganzen Tag auf dem Rollfeld stehen“, sagt Pfetzing und schmunzelt. Doch die Menschen mit den „Tischtennisschlägern“, die Flugzeuge in ihre Parkpositionen winken, sind keine Fluglotsen. Bei ihnen handelt es sich um die „Marshaller“, die nichts mit der DFS zu tun haben.
Weitaus größer als die Zahl der Tower-Lotsen ist die der Lotsen im Center. Sie übernehmen den Flug, wenn die Maschine nach dem Start ihre Flugroute aufgenommen hat. Die Lotsen kontrollieren alle Flüge, bei denen nach Instrumenten und nicht, wie etwa bei Kleinflugzeugen, auf Sicht navigiert wird. Keine Sekunde des Flugs vergeht ohne die Kontrolle der Fluglotsen. Der Beruf gilt darum als äußerst verantwortungsvoll. Wie geht man damit um, dass die Sicherheit von Abertausenden Menschen tagtäglich von einem abhängt? „Da wächst man rein“, sagt Happe. Bereits in der Ausbildung werde man herangeführt. „Und irgendwann gehört es zum Tagesgeschäft.“Man dürfe darüber auch nicht so viel nachdenken. „Sonst würde man sich zur Arbeit schleppen, wenn man ständig denkt: ,Oh Gott, wie viele Menschen sitzen heute in den Flugzeugen’.“Ausgleich fänden Fluglotsen oft im Sport, gern auch in extremeren Varianten: „Es gibt viele, die ihren Sport semiprofessionell betreiben, und natürlich gibt es Sportflieger, Segelflieger oder Fallschirmspringer unter den Fluglotsen.“
Sehr gute Bezahlung
Abschalten nach der Arbeit fällt Happe vergleichsweise leicht: „Man hat einfach Feierabend, die nächste Schicht übernimmt. Das bedeutet auch, dass man sich nicht beeilen muss bei der Arbeit: Die Flugzeuge fliegen ja nicht schneller, wenn ich mich beeile.“Ist die Arbeit getan, will Happe aber erst mal keine Entscheidungen mehr treffen: „Wenn man als Fluglotse nach Hause kommt und die Frau fragt, was sollen wir essen, lautet die Antwort oft: Das ist mir komplett egal, ich hab heute schon 500 Entscheidungen getroffen.“
Der Job des Fluglotsen ist auch deshalb attraktiv, weil er sehr gut bezahlt wird. Im ersten Ausbildungsjahr bekommen die Lotsen rund 1200 Euro im Monat. Zu Beginn der praktischen Ausbildung verdienen sie bereits 48 000 Euro brutto pro Jahr. Danach liegt das Einstiegsgehalt bei etwa 100 000 Euro. Und: Fluglotsen können mit 55 Jahren aus dem Dienst ausscheiden. 99 Prozent der DFS-Mitarbeiter nehmen diese Möglichkeit laut Pfetzing wahr. „Je älter man wird, desto mehr weiß man das zu schätzen“, sagt Happe. Wenn er frühere Schulkameraden treffe und erwähne, dass er in 15 Jahren in Ruhestand gehen wird, „machen die anderen große Augen“.
Weil die Statistik zeigt, dass man in jungen Jahren die Lotsen-Ausbildung eher besteht und weil diese die DFS 300 000 Euro kostet, darf man zum Beginn des Ausbildungsstarts höchstens 24 Jahre alt sein. Das Mindestalter ist 18, nötiger Schulabschluss ist das Abitur. Uneingeschränkte Seh- und Hörfähigkeit sind zudem Pflicht.
Einer, der noch am Anfang seiner Karriere steht, ist Tim Greis. Der 20-Jährige hat seine Ausbildung im Juli 2018 angefangen. Derzeit trainiert er im Simulator in Karlsruhe. „Jeder Tag ist anders, man muss sich immer wieder in neue Situationen hineindenken“, sagt der junge Mann. Bevor er im Juli 2018 zunächst ein Jahr lang an der DFSAkademie im hessischen Langen die theoretischen Grundlagen lernte, musste er sich diversen Eignungstests unterziehen. „Dabei wird das logische Denken geprüft, aber auch Kopfrechnen, Englischkenntnisse und es gibt auch psychologische Tests“, sagt Greis, der die als anspruchsvoll bekannten Prüfungen nicht „übermäßig stressig“fand, wie er erzählt. Pfetzing sagt: „Der Test ist schwierig für Leute, die für den Beruf nicht geeignet sind.“Es sei kein Wissenstest, sondern ein Eignungstest. Teamfähigkeit sei viel wichtiger als etwa eine exzellente Mathematiknote. Den Test bestehen allerdings nur etwa fünf Prozent der Bewerber. Deshalb löst alleine die Zahl von 6000 Interessenten pro Jahr das Problem des großen Bedarfs bei der DFS noch nicht.
Für Tim Greis ist noch bis Dezember Simulator-Training angesagt. Dort wird er auf seine Arbeit im Kontrollraum vorbereitet. Greis wird für die Sektoren des Südens eingearbeitet. Er gehört dann zu einer sogenannten Einsatzberechtigungsgruppe: Die Lotsen werden bereits in der Ausbildung für den festen Bereich fit gemacht, in dem sie später auch arbeiten. Im Gegensatz zum Simulator wird im Center realer Flugverkehr abgearbeitet. Dabei ist dem Auszubildenden dann ein erfahrener Lotse zugeteilt, der ihn anleitet und überwacht.
Nicht nur diese gegenseitige Kontrolle soll Fehler vermeiden. Als direkte Konsequenz des Flugzeugunglücks von Überlingen im Jahr 2002 wurde weltweit verpflichtend gemacht, dass ein System den Menschen überstimmt, wenn zwei Flugzeuge auf Kollisionskurs seien, sagt Pfetzing. „Dann setzen im Cockpit die TCAS-Systeme ein und überstimmen die Anweisung des Lotsen.“TCAS steht für Traffic Alert and Collision Avoidance System. Bei dem verheerenden Zusammenstoß einer Frachtmaschine der DHL und eines russischen Passagierflugzeugs kamen in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2002 71 Menschen ums Leben, 49 von ihnen waren Kinder. Vor dem Zusammenstoß hatte die Besatzung der Frachtmaschine die Anweisung des TCAS befolgt, während die russische Besatzung auf den Fluglotsen gehört hatte. Die Ausweichbewegungen waren dann dieselben, beide Maschinen gingen in den Sinkflug und kollidierten. Der Bericht zum Unglück umfasst 124 Seiten, die Umstände, die zum Unglück geführt hätten, seien komplex. „Überlingen war eine Art Stunde Null für die Flugsicherung“, sagt Pfetzing. Unter Bewerbern sei das Unglück allerdings kaum ein Thema. „Manche waren damals noch gar nicht geboren“, so Pfetzing.
Der Mensch wird gebraucht
Der Schweizer Luftraum und der Luftraum über dem Bodensee wird nicht von der DFS überwacht. Hier ist das Schweizer Unternehmen Skyguide zuständig. „Wenn wir den Flugverkehr bis an die Schweizer Grenze führen würden, könnten wir ihn auch gleich ganz übernehmen – so kurz wie Flieger in der Schweiz noch unterwegs sind, würde es sich gar nicht lohnen, den Flugverkehr noch zu übergeben. Damit wenigstens die Zürich-Anflüge noch von der Schweiz gemacht werden können, übergeben wir über dem Bodensee.“In Grenznähe gebe es diesen sogenannten delegierten Luftraum immer wieder.
Glaubt man Pfetzings Worten, ist der Job des Fluglotsen übrigens krisensicher. Auch Digitalisierung, die für viele Berufsfelder drastische Veränderungen mit sich bringt, wird Fluglotsen nicht überflüssig machen. „Die Komplexität der Systeme ist zu hoch, um sie der reinen Künstlichen Intelligenz zu überlassen“, ist sich Pfetzing sicher. „Der Mensch wird gebraucht, diesen Beruf wird es auch weiter geben.“
„Jeder Tag ist anders, man muss sich immer wieder in neue Situationen hineindenken.“
Tim Greis über die Ausbildung zum Fluglotsen