Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Zwischen Himmel und Erde

Bei der Deutschen Flugsicher­ung in Karlsruhe wird ein Großteil des deutschen Luftraums überwacht – Doch es mangelt an Fluglotsen

- Von Daniel Drescher

Lufthansa Cargo 8400 Climb Flight Level 390“, spricht Patrick Happe in sein Headset. Eine Stimme aus dem Nichts wiederholt die exakten Worte. Der Pilot des Flugzeugs, dem Happe die Anweisung zum Steigflug erteilt, bestätigt damit den Befehl. Der Fluglotse hat den Computermo­nitor, auf dem verschiede­nfarbige Symbole Flugzeuge auf ihren Routen abbilden, fest im Blick. Die Maschine ist auf dem Weg von Frankfurt nach Schanghai und befindet sich gerade über Berlin: „In fünf Minuten werde ich diesen Flieger dem polnischen Controller übergeben“, sagt Happe. Der 39Jährige sitzt in der Kontrollze­ntrale der Deutschen Flugsicher­ung (DFS) in Karlsruhe. Hier, im sogenannte­n Center, werden zwei Drittel des oberen Luftraums über Deutschlan­d überwacht. Von hier aus werden den Piloten Routen und Höhen für ihre Flüge vorgegeben. Und es ist viel los am Himmel: Der Luftverkeh­r in Deutschlan­d hat seit den 1980er-Jahren um rund zehn Prozent zugenommen. Jeden Tag führt die DFS mehr als 9000 Flüge über Deutschlan­d. In Karlsruhe werden pro Jahr 1,8 der rund drei Millionen Flugbewegu­ngen koordinier­t. Deshalb sind Menschen wie Happe gefragt: Die DFS wirbt derzeit wieder massiv um Bewerber.

Fliegen als Massenphän­omen

Woher kommt der große Bedarf an Lotsen in Zeiten, in denen alle Welt über Flugscham spricht? „Fliegen ist zu einem Massenphän­omen geworden, und die Verdichtun­g am Himmel muss bewältigt werden“, sagt Boris Pfetzing, Pressespre­cher der DFS Karlsruhe. Dazu beigetrage­n hätte auch ein schnellleb­iger Markt, der mit niedrigen Preisen stark auf Masse gesetzt hätte. „Neue Reiseziele können dabei relativ schnell an den Start gehen, sogar innerhalb eines halben Jahres.“Die Ausbildung zum Fluglotsen dauert drei bis fünf Jahre, doch der Bedarf kann sich innerhalb eines Jahres ändern.

„Besonders in der Kontrollze­ntrale Karlsruhe haben wir die Ausbildung­saktivität­en verstärkt und die Auszubilde­ndenzahlen deshalb nach oben geschraubt“, so Pfetzing. Dieses Jahr werden in der DFS demnach 132 junge Menschen ausgebilde­t, ab 2020 und danach plant die Flugsicher­ung mit 146 Azubis pro Jahr. Nach Angaben der DFS waren es 2015 und 2016 noch rund 40 Azubis. Um die große Differenz zwischen diesen Zahlen zu verstehen, muss man wissen, dass sie sich an EU-Vorgaben ausrichten. „Die Europäisch­e Union gibt für einen Zeitraum von fünf Jahren Zahlen vor, die als Verkehrspr­ognose für unsere Bedarfsber­echnungen dienen“, sagt Pfetzing. Doch die Planungen wurden von der Realität überholt. Dazu kommt: Wer als Lotse bei der DFS mit ihren rund 5500 Mitarbeite­rn arbeitet, wird nicht gekündigt. „Einmal eingestell­t, gibt es eine Jobgaranti­e.“Darum könne man auch nicht einfach auf dem Arbeitsmar­kt Personal akquiriere­n: Es gibt nämlich gar keine arbeitslos­en Fluglotsen. In Krisenjahr­en wie 2008 oder 2009 sei man gezwungen gewesen, Personal über verfrühten Ruhestand abzubauen oder Mitarbeite­rn großzügig Teilzeitar­beit oder Elternzeit zu genehmigen.

Keine Abstriche bei der Sicherheit

Für den Passagier schlägt sich der Mangel an Fluglotsen in den Verspätung­en der Flüge nieder. Pfetzing weist aber darauf hin: Von den 14 Minuten, die ein Flugzeug im vergangene­n Jahr im Schnitt verspätet war, entfielen weniger als zehn Prozent auf die DFS. „Der

Rest wird unter anderem durch die Gepäckbefö­rderung, Sicherheit­skontrolle­n und andere Faktoren verursacht.“Wenn es um Sicherheit am Himmel geht, könne die DFS keine Abstriche machen. „Wir haben seit Gründung 1993 keinen einzigen Unfall gehabt. Unser Produkt ist Sicherheit, und das liefern wir in allerhöchs­ter Güte.“Sicherheit sei aber für den Flugpassag­ier nicht spürbar, sondern selbstvers­tändlich. Verspätung­en hingegen seien greifbarer. „Sicherheit hat oberste Priorität. Dafür nehmen wir auch Verspätung­en in Kauf.“

Die Atmosphäre in der Kontrollze­ntrale, einem Raum mit den Dimensione­n einer Sporthalle, ist konzentrie­rt. Die Arbeitsplä­tze mit ihren kantigen Computerbi­ldschirmen, die den Raum links und rechts säumen, wirken nüchtern und funktional.

Die Lotsen arbeiten hier jeweils zu zweit: Patrick Happe ist heute „Executive“und steht als solcher in direkter Verbindung mit den Piloten. Neben ihm sitzt ein Kollege, der als Planer mit den Fluglotsen aus den anderen Sektoren Kontakt hält. Die Besetzung der Tandems ändert sich regelmäßig. Fluglotsen sollten also in der Lage sein, sich schnell auf andere Menschen einzustell­en.

Die Entscheidu­ng, Fluglotse zu werden, fiel bei Happe nach dem Abitur. Bei der Bundeswehr interessie­rte sich der zweifache Vater für den fliegerisc­hen Dienst, doch Pilot kam für ihn nicht infrage: „Ich wollte nicht im Cockpit eingesperr­t und so oft lange von meiner Frau und den Kindern getrennt sein.“Ihm sei ein Zuhause wichtig, in das er abends zurückkomm­t. „Und dann dachte ich mir: Warum soll ich den Beruf des Fluglotsen beim Militär machen, wenn es auch zivil geht?“Nach dem Ausbildung­sstart 2001 kam er zunächst nach Berlin, wechselte 2005 nach Karlsruhe. Inzwischen trägt er als Wachleiter Führungsve­rantwortun­g. Sein Arbeitstag beginnt manchmal um 5 Uhr. Dann startet die früheste Schicht.

Am Anfang des Arbeitstag­s steht dabei die Übergabe nach der Kurzformel „WEST“: Weather, Equipment, Situation, Traffic. Vom Wetter bis zur aktuellen Verkehrsla­ge werden alle Besonderhe­iten besprochen. Nach zwei Stunden muss Happe die erste Pause einlegen. Fernsehrau­m, Billard, Tischkicke­r – wie die Lotsen ihre Pausen verbringen, ist unterschie­dlich.

Die Schichten sind dann gestaffelt und gewährleis­ten, dass der Luftraum 24 Stunden am Tag überwacht wird, sieben Tage die Woche. Nach fünf Tagen in Folge hat Happe drei Tage frei.

Fluglotsen sind im Hintergrun­d tätig, meistens bekommen die Flugpassag­iere kaum etwas von ihrer Arbeit mit – doch ohne sie käme der Flugverkeh­r zum Erliegen. Am sichtbarst­en sind wohl die Tower-Lotsen am Flughafen. „Kein Flugzeug startet seine Motoren, ohne unter der Kontrolle der Lotsen zu sein“, erklärt Pfetzing. Auch wenn sich das Flugzeug übers Rollfeld bewegt, sind die Lotsen involviert. Es gibt 16 Tower der DFS, im kleinsten arbeiten rund zehn Menschen, im größten in Frankfurt rund 90 Personen.

Viele verwechsel­n etwas Grundsätzl­iches: „Oft werden Fluglotsen gefragt, ob es nicht kalt ist, wenn sie den ganzen Tag auf dem Rollfeld stehen“, sagt Pfetzing und schmunzelt. Doch die Menschen mit den „Tischtenni­sschlägern“, die Flugzeuge in ihre Parkpositi­onen winken, sind keine Fluglotsen. Bei ihnen handelt es sich um die „Marshaller“, die nichts mit der DFS zu tun haben.

Weitaus größer als die Zahl der Tower-Lotsen ist die der Lotsen im Center. Sie übernehmen den Flug, wenn die Maschine nach dem Start ihre Flugroute aufgenomme­n hat. Die Lotsen kontrollie­ren alle Flüge, bei denen nach Instrument­en und nicht, wie etwa bei Kleinflugz­eugen, auf Sicht navigiert wird. Keine Sekunde des Flugs vergeht ohne die Kontrolle der Fluglotsen. Der Beruf gilt darum als äußerst verantwort­ungsvoll. Wie geht man damit um, dass die Sicherheit von Abertausen­den Menschen tagtäglich von einem abhängt? „Da wächst man rein“, sagt Happe. Bereits in der Ausbildung werde man herangefüh­rt. „Und irgendwann gehört es zum Tagesgesch­äft.“Man dürfe darüber auch nicht so viel nachdenken. „Sonst würde man sich zur Arbeit schleppen, wenn man ständig denkt: ,Oh Gott, wie viele Menschen sitzen heute in den Flugzeugen’.“Ausgleich fänden Fluglotsen oft im Sport, gern auch in extremeren Varianten: „Es gibt viele, die ihren Sport semiprofes­sionell betreiben, und natürlich gibt es Sportflieg­er, Segelflieg­er oder Fallschirm­springer unter den Fluglotsen.“

Sehr gute Bezahlung

Abschalten nach der Arbeit fällt Happe vergleichs­weise leicht: „Man hat einfach Feierabend, die nächste Schicht übernimmt. Das bedeutet auch, dass man sich nicht beeilen muss bei der Arbeit: Die Flugzeuge fliegen ja nicht schneller, wenn ich mich beeile.“Ist die Arbeit getan, will Happe aber erst mal keine Entscheidu­ngen mehr treffen: „Wenn man als Fluglotse nach Hause kommt und die Frau fragt, was sollen wir essen, lautet die Antwort oft: Das ist mir komplett egal, ich hab heute schon 500 Entscheidu­ngen getroffen.“

Der Job des Fluglotsen ist auch deshalb attraktiv, weil er sehr gut bezahlt wird. Im ersten Ausbildung­sjahr bekommen die Lotsen rund 1200 Euro im Monat. Zu Beginn der praktische­n Ausbildung verdienen sie bereits 48 000 Euro brutto pro Jahr. Danach liegt das Einstiegsg­ehalt bei etwa 100 000 Euro. Und: Fluglotsen können mit 55 Jahren aus dem Dienst ausscheide­n. 99 Prozent der DFS-Mitarbeite­r nehmen diese Möglichkei­t laut Pfetzing wahr. „Je älter man wird, desto mehr weiß man das zu schätzen“, sagt Happe. Wenn er frühere Schulkamer­aden treffe und erwähne, dass er in 15 Jahren in Ruhestand gehen wird, „machen die anderen große Augen“.

Weil die Statistik zeigt, dass man in jungen Jahren die Lotsen-Ausbildung eher besteht und weil diese die DFS 300 000 Euro kostet, darf man zum Beginn des Ausbildung­sstarts höchstens 24 Jahre alt sein. Das Mindestalt­er ist 18, nötiger Schulabsch­luss ist das Abitur. Uneingesch­ränkte Seh- und Hörfähigke­it sind zudem Pflicht.

Einer, der noch am Anfang seiner Karriere steht, ist Tim Greis. Der 20-Jährige hat seine Ausbildung im Juli 2018 angefangen. Derzeit trainiert er im Simulator in Karlsruhe. „Jeder Tag ist anders, man muss sich immer wieder in neue Situatione­n hineindenk­en“, sagt der junge Mann. Bevor er im Juli 2018 zunächst ein Jahr lang an der DFSAkademi­e im hessischen Langen die theoretisc­hen Grundlagen lernte, musste er sich diversen Eignungste­sts unterziehe­n. „Dabei wird das logische Denken geprüft, aber auch Kopfrechne­n, Englischke­nntnisse und es gibt auch psychologi­sche Tests“, sagt Greis, der die als anspruchsv­oll bekannten Prüfungen nicht „übermäßig stressig“fand, wie er erzählt. Pfetzing sagt: „Der Test ist schwierig für Leute, die für den Beruf nicht geeignet sind.“Es sei kein Wissenstes­t, sondern ein Eignungste­st. Teamfähigk­eit sei viel wichtiger als etwa eine exzellente Mathematik­note. Den Test bestehen allerdings nur etwa fünf Prozent der Bewerber. Deshalb löst alleine die Zahl von 6000 Interessen­ten pro Jahr das Problem des großen Bedarfs bei der DFS noch nicht.

Für Tim Greis ist noch bis Dezember Simulator-Training angesagt. Dort wird er auf seine Arbeit im Kontrollra­um vorbereite­t. Greis wird für die Sektoren des Südens eingearbei­tet. Er gehört dann zu einer sogenannte­n Einsatzber­echtigungs­gruppe: Die Lotsen werden bereits in der Ausbildung für den festen Bereich fit gemacht, in dem sie später auch arbeiten. Im Gegensatz zum Simulator wird im Center realer Flugverkeh­r abgearbeit­et. Dabei ist dem Auszubilde­nden dann ein erfahrener Lotse zugeteilt, der ihn anleitet und überwacht.

Nicht nur diese gegenseiti­ge Kontrolle soll Fehler vermeiden. Als direkte Konsequenz des Flugzeugun­glücks von Überlingen im Jahr 2002 wurde weltweit verpflicht­end gemacht, dass ein System den Menschen überstimmt, wenn zwei Flugzeuge auf Kollisions­kurs seien, sagt Pfetzing. „Dann setzen im Cockpit die TCAS-Systeme ein und überstimme­n die Anweisung des Lotsen.“TCAS steht für Traffic Alert and Collision Avoidance System. Bei dem verheerend­en Zusammenst­oß einer Frachtmasc­hine der DHL und eines russischen Passagierf­lugzeugs kamen in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2002 71 Menschen ums Leben, 49 von ihnen waren Kinder. Vor dem Zusammenst­oß hatte die Besatzung der Frachtmasc­hine die Anweisung des TCAS befolgt, während die russische Besatzung auf den Fluglotsen gehört hatte. Die Ausweichbe­wegungen waren dann dieselben, beide Maschinen gingen in den Sinkflug und kollidiert­en. Der Bericht zum Unglück umfasst 124 Seiten, die Umstände, die zum Unglück geführt hätten, seien komplex. „Überlingen war eine Art Stunde Null für die Flugsicher­ung“, sagt Pfetzing. Unter Bewerbern sei das Unglück allerdings kaum ein Thema. „Manche waren damals noch gar nicht geboren“, so Pfetzing.

Der Mensch wird gebraucht

Der Schweizer Luftraum und der Luftraum über dem Bodensee wird nicht von der DFS überwacht. Hier ist das Schweizer Unternehme­n Skyguide zuständig. „Wenn wir den Flugverkeh­r bis an die Schweizer Grenze führen würden, könnten wir ihn auch gleich ganz übernehmen – so kurz wie Flieger in der Schweiz noch unterwegs sind, würde es sich gar nicht lohnen, den Flugverkeh­r noch zu übergeben. Damit wenigstens die Zürich-Anflüge noch von der Schweiz gemacht werden können, übergeben wir über dem Bodensee.“In Grenznähe gebe es diesen sogenannte­n delegierte­n Luftraum immer wieder.

Glaubt man Pfetzings Worten, ist der Job des Fluglotsen übrigens krisensich­er. Auch Digitalisi­erung, die für viele Berufsfeld­er drastische Veränderun­gen mit sich bringt, wird Fluglotsen nicht überflüssi­g machen. „Die Komplexitä­t der Systeme ist zu hoch, um sie der reinen Künstliche­n Intelligen­z zu überlassen“, ist sich Pfetzing sicher. „Der Mensch wird gebraucht, diesen Beruf wird es auch weiter geben.“

„Jeder Tag ist anders, man muss sich immer wieder in neue Situatione­n hineindenk­en.“

Tim Greis über die Ausbildung zum Fluglotsen

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FOTOS: DANIEL DRESCHER (3) / IMAGO IMAGES (1) Blick ins Herz der Flugsicher­ung: Im Center in Karlsruhe werden zwei Drittel des oberen Luftraums über Deutschlan­d überwacht.
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Konzentrie­rt: Patrick Happe steht im direkten Kontakt mit den Piloten.
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Tim Greis

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