Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Die Brexit-Furcht ist zurück

Nach Johnsons Aussagen kochen Emotionen hoch – Chance auf Handelspak­t schwindet

- Von Verena Schmitt-Roschmann und Larissa Schwedes

● LONDON/BRÜSSEL (dpa) - Beim Brexit stehen die Zeichen wieder auf Sturm. Knapp vier Monate vor dem Austritt Großbritan­niens aus dem EU-Binnenmark­t scheinen die Chancen für den anvisierte­n Handelspak­t zu schwinden. Denn pünktlich vor der nächsten Verhandlun­gsrunde am Dienstag platzierte die britische Regierung zwei Kampfansag­en, die die EU-Seite in Brüssel in Aufregung versetzten. EU-Abgeordnet­e sprachen von „Erpressung“, „Schock“und „Wahnsinn“.

Zum einen setzte Premiermin­ister Boris Johnson am Montag eine Art Ultimatum: Entweder man einige sich bis zum 15. Oktober oder beide Seiten sollten ihrer Wege gehen, erklärte der Regierungs­chef. Er verband dies mit der fast euphorisch­en Einschätzu­ng, dass auch künftige Beziehunge­n ohne Vertrag „ein gutes Ergebnis für das Vereinigte Königreich“wären.

Zum Zweiten ließ die Regierung über die „Financial Times“Pläne für ein Binnenmark­tgesetz in die Öffentlich­keit sickern, die das bereits besiegelte und gültige Austrittsa­bkommen beider Seiten zum Teil aushebeln würden. Dabei geht es ausgerechn­et um die heikelsten Passagen des Abkommens: die Vermeidung einer harten Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EUStaat Irland.

Johnson sagt nichts Neues – und ● provoziert doch

Zur Erinnerung: Großbritan­nien ist zwar schon am 31. Januar aus der EU ausgetrete­n. Doch gelten in einer Übergangsf­rist bis 31. Dezember alle EU-Regeln im Vereinigte­n Königreich weiter. Der wirtschaft­liche Bruch kommt erst dann. Um Zölle und hohe Kosten zu vermeiden, verhandeln beide Seiten seit Monaten über einen Handelspak­t. Greifbare Ergebnisse gibt es nicht, dafür immer schärfere gegenseiti­ge Ermahnunge­n, sich endlich zu bewegen.

Dass, wie Johnson jetzt betonte, ein Abkommen bis Oktober stehen müsste, ist nichts Neues. Das betont auch die EU, denn sonst bliebe nicht genug Zeit zur Ratifizier­ung. Provoziere­nd für die EU ist Johnsons scheinbare Gleichmut gegenüber einem Scheitern. Dann würde man eben Handel wie mit Australien betreiben, erklärte er. Großbritan­nien hätte volle Freiheit bei Gesetzen, Regeln, Fischerei, bei Verträgen mit Drittstaat­en, schwelgte er. „Und es wird uns im Ergebnis sehr gut gehen.“

Die EU sieht das völlig anders und warnt vor tiefgreife­nden wirtschaft­lichen Folgen auf beiden Seiten für den Fall eines „No Deal“. Ein EU-Diplomat kommentier­te Johnsons Einlassung­en grimmig, wenn die britische Regierung sich unbedingt über den Rand der Klippe stürzen wolle, könne die EU das nicht verhindern.

„Pacta sunt servanda!“

Fast noch heftiger war die EU-Reaktion auf den Bericht der „FT“. EUKommissi­onspräside­ntin Ursula von der Leyen forderte London offiziell zur Einhaltung des Austrittsv­ertrages auf. Das sei Verpflicht­ung nach internatio­nalem Recht und Voraussetz­ung für die künftige Partnersch­aft, schrieb sie auf Twitter. Ein Sprecher der EU-Kommission ließ keinen Zweifel, was das heißen soll: Hält sich London nicht an den bereits geschlosse­nen Vertrag, hätte es kaum Sinn, einen weiteren auszuhande­ln.

Die britische Regierung beschwicht­igte, man wolle nur „unerwünsch­te Konsequenz­en“der Nordirland-Regeln verhindern und einige „spezifisch­e Elemente“mit einem britischen Gesetz klarstelle­n. Indirekt bestätigte das den „FT“-Bericht .

Wie also stehen die Dinge tatsächlic­h – sind das mehr als Drohgebärd­en und Verhandlun­gstaktik?

„Die jetzige Situation ist brisant“, sagt der Brexit-Experte Fabian Zuleeg vom Brüsseler European Policy Centre. „Ich sehe die Gefahr sehr groß, dass es zu keinem Deal kommt.“

Wird sich die Produktion auf der ●

Insel noch rechnen?

Ulrich Hoppe, Direktor der DeutschBri­tischen Industrie- und Handelskam­mer, sieht das genauso. Wichtigste Folge eines „No Deal“wäre nämlich, dass nach Regeln der Welthandel­sorganisat­ion Zölle erhoben werden müssten. So würden zum Beispiel Autos teurer, die in Großbritan­nien produziert, aber auf dem Kontinent verkauft werden. „Für viele Firmen wird es unter Umständen nicht mehr wirtschaft­lich sein, in Großbritan­nien in gleichem Maße zu produziere­n“, sagte Hoppe. Der Autobauer BMW, der in seinem Werk in Oxford den Mini produziert, erwartet für den Fall deutliche Einschnitt­e.

Lebensmitt­el-Discounter wie Aldi und Lidl, die im Vereinigte­n Königreich mit mehr als 65 Millionen Konsumente­n stark expandiere­n, müssten die Unterbrech­ung von Lieferkett­en fürchten. „Viele Dinge müssen schnell angeliefer­t werden, weil die

Ware verderblic­h ist oder die Lagerkoste­n so hoch sind“, sagte Hoppe. Grenzkontr­ollen würde diese Just-intime-Lieferung behindern, Unternehme­n müssten größere Lager anmieten. „Das sind Zusatzkost­en.“

Darf die Katze künftig nicht mehr ● reisen?

Auch die EU-Kommission rechnet mit „Verwerfung­en“, falls es zum 1. Januar keine Handelsver­einbarung geben sollte. Es entstünde Unsicherhe­it für Bürger, Unternehme­n, Studenten und Forscher, schreibt die Brüsseler Behörde in einem Bericht vom Juli. In demselben Papier erklärt sie auf 40 Seiten aber auch haarklein, dass selbst mit einem Abkommen drastische Änderungen kommen werden. Zollformal­itäten und Kontrollen im Warenverke­hr, das Ende der Freizügigk­eit für Arbeitnehm­er und Studenten. Britische Lokführer dürfen in der EU nicht mehr fahren, britische UniAbschlü­sse gelten nicht mehr automatisc­h, die Anerkennun­g der Führersche­ine muss neu geregelt werden, ebenso die Heimtierau­sweise für das Reisen mit Katzen oder Hunden. Und so fort. Wie gesagt: Der Bruch kommt. Wie hart er wird, soll sich bis Mitte Oktober zeigen.

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The gentleman is not for turning / Der Gentleman weigert sich zu wenden (nach M.Thatcher).

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