Für Putin ist der Pipeline-Bau ein Prestigeprojekt
Wie sich ein Stopp von Nord Stream 2 auf die deutsche Energieversorgung und die Wirtschaft in Russland auswirken würde
● BERLIN/MOSKAU - Die Erdgaspipeline Nord Stream 2 steht seit Tagen im Mittelpunkt der Debatte über mögliche Strafmaßnahmen gegen Russland. Nun schließt auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht mehr aus, dass die Gasleitung von Sanktionen betroffen sein könnte. Hintergrund ist der Anschlag auf den russischen Regierungskritiker Alexej Nawalny, der seit Ende August in einem Berliner Krankenhaus behandelt wird. Am Montag beendeten die Ärzte das künstliche Koma des prominenten Patienten und teilten mit, er sei ansprechbar.
Merkel sei der Ansicht, „dass es falsch ist, etwas auszuschließen“, sagte ihr Sprecher Steffen Seibert in Berlin. Die Kanzlerin schloss sich damit der Haltung von Außenminister Heiko Maas (SPD) an, der am Wochenende angedeutet hatte, der Fall Nawalny könne auch Auswirkungen auf Nord Stream 2 haben. Merkel hatte die Erdgasröhre zwischen Russland und Deutschland, die kurz vor der Fertigstellung steht, bislang stets aus allen politischen Differenzen zwischen Berlin und Moskau ausgeklammert. Durch die Röhren soll Erdgas aus Russland unter Umgehung von Transitländern wie Polen oder der Ukraine direkt nach Deutschland fließen, weswegen das
Vorhaben auch in Europa umstritten ist.
Derzeit sei es aber noch zu früh, über konkrete Konsequenzen zu reden, betonte Sprecher Seibert. Zudem werde auf europäischer Ebene an einer gemeinsamen Reaktion gearbeitet. Seibert wies darauf hin, dass es für Nord Stream 2 eine EURechtsgrundlage
gebe, es sei daher ein europäisches und kein rein deutsches Projekt.
Bisher war die Position der Bundesregierung: Nord Stream 2 ist ein Projekt der Wirtschaft, hat aber politische Implikationen. Und: Gas ist wichtig als „Brückentechnologie“zur Versorgungssicherheit. Bis Ende 2022 steigt Deutschland aus der Atomkraft und bis spätestens 2038 aus der Kohleverstromung aus. Die ersten Blöcke gehen in den kommenden Jahren vom Netz. Der Ausbau des Ökostroms aus Wind und Sonne aber stockt derzeit. Die Gasförderung in der EU ist rückläufig. Mit Nordstream 2 sollen künftig zusätzlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas in die EU fließen.
Europa ist auf Gas aus dem Ausland angewiesen und bezieht dies auch schon über mehrere Pipelines vom Riesenreich Russland: zum Beispiel über Nord Stream 1. Außerdem ist die Ukraine eines der wichtigsten Transitländer. Für Nord Stream 2 fehlen rund 150 Kilometer, die letzten Rohre sollen bis zum Jahresende verlegt werden – wenn alles nach Plan läuft.
Für Kremlchef Putin ist die Pipeline sehr wichtig, fast ein Prestigeprojekt. Die russische Wirtschaft lebt zu einem guten Teil von den Einkommen aus Gas und Öl. So rechnete der russische Gasmonopolist Gazprom als Hauptaktionär damit, die zehn Milliarden Euro für den Bau der Ostseepipeline innerhalb von einigen Jahren wieder einzuspielen.
Sollte es zu Sanktionen kommen, würde das die traditionell guten Beziehungen zwischen beiden Ländern zwar sehr treffen, sagte der Moskauer Ökonom Wladislaw Inosemzew. Die wirtschaftliche Kooperation würde ein Baustopp aber nicht nachhaltig erschüttern. „Es wäre zwar schade ums Geld, Gazprom wird deswegen aber nicht pleitegehen. Es gibt genügend andere Kanäle, über die der Konzern Geld verdient“, sagte der Wirtschaftsexperte. Russland könnte etwa mehr Gas durch die Ukraine nach Europa schicken, wovon Kiew profitieren könnte. Darüber hinaus sucht Russland die Nähe zu anderen Ländern. So wurde im vergangenen Winter die Pipeline zwischen Russland und China mit dem Namen Sila Sibirii (Kraft Sibiriens) gelegt.
Ein Stopp der Pipeline Richtung Westen ist nicht einfach. Nord Stream 2 hat Genehmigungen zum Bau und Betrieb der Pipeline, die EU hatte eine Änderung der Gasrichtlinie beschlossen. Auch für deutsche Firmen steht viel Geld auf dem Spiel. Nach Angaben der Gaswirtschaft müssten im Falle eines Baustopps Investitionen in Höhe von acht Milliarden Euro abgeschrieben werden. Rund 120 Unternehmen aus zwölf europäischen Ländern seien direkt in Bau und Betrieb der Pipeline involviert. Der Düsseldorfer Energiekonzern Uniper warnt vor einem Aus: Die Leitung werde ebenso wie FlüssiggasTerminals „dringend benötigt, um eine sichere, flexible und kostengünstige Versorgung Europas mit Erdgas auch in Zukunft zu gewährleisten“.