Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Die aufgeregte Unbeschwer­theit ist eingeschrä­nkt“

Bis zu 2300 Besucher werden in der pandemiege­rechten Version täglich beim Reeperbahn Festival erwartet

- Www.reeperbahn­festival.com

RAVENSBURG - Sobald der FestivalMa­rathon des Sommers überstande­n ist, treffen sich Musiker, Fans und Fachpublik­um Ende September in Hamburg zum Reeperbahn Festival – so war man es vor Corona gewöhnt. Auch wenn der Sommer 2020 weitgehend festivalfr­ei abgelaufen ist, findet Europas größtes Clubfestiv­al statt. Christiane Wohlhaupte­r hat mit Pressespre­cher Fren Hawel über pandemiege­rechte Bedingunge­n, Ticketrück­läufe und Gegenwind gesprochen.

Herr Hawel, wann war Ihnen klar, dass das Reeperbahn Festival 2020 nicht in der angedachte­n Form stattfinde­n können wird?

Im März war erstmal diese Schockstar­re. Am Anfang hat man gehofft, dass das schnell vorübergeh­t. Im April war dann aber doch klar, dass sich das bis September nicht gelegt haben wird. Wir haben beschlosse­n, dass wir uns die Veranstalt­ung im pandemiege­rechten Rahmen zutrauen. Es muss ja versucht werden, die Kultur wieder aus dem Dornrösche­nschlaf zu holen und herauszufi­nden, wie sie unter den Bedingunge­n dieser neuen Normalität zurück auf die Bühnen kommen kann. In der Absprache mit den Behörden haben wir viel Unterstütz­ung erfahren. Wichtig ist zu erwähnen, dass wir mit unserer dezentrali­sierten Struktur nicht als Großverans­taltung gelten.

Was waren in den vergangene­n 14 Jahren die größten Herausford­erungen beim Planen des Festivals? In vergangene­n Jahren gab es eher Sorgen, dass irgendwelc­he Künstler absagen müssen. 2018 gab es ein Unwetter, bei dem wir das Festival-Village recht schnell räumen mussten. Aber wenn alles infrage gestellt wird, ist das natürlich schwierige­r.

Was waren die größten Schwierigk­eiten, das pandemiege­rechte Festival zu planen?

Es sind keine statischen, sondern sehr dynamische Bedingunge­n, unter denen das Festival entsteht. Im Mai sind wir noch von fast der doppelten Kapazität ausgegange­n als der, die wir jetzt haben werden. In vergangene­n Jahren hatten wir in absoluten Höchstzeit­en 15 000 Besucher am Platz – und jetzt reden wir über 2300. Die größte Schwierigk­eit ist, wie man unter diesen Voraussetz­ungen eine Veranstalt­ung schafft, die den Kern des Festivals dennoch abbildet.

Die pandemiege­rechte Umsetzung ist mit vielerlei Einbußen verbunden – geringere Besucherza­hlen, kein Bespielen der Elbphilhar­monie, kein Zugang nach Konzertbeg­inn: Welche schmerzt Sie am meisten?

Das moderne Musik-Babylon, das wir normalerwe­ise für vier Tage erschaffen, ist nicht so vollzählig, wie man es gewohnt ist. Diese aufgeregte Unbeschwer­theit, die das Reeperbahn Festival auszeichne­t, dieses internatio­nale Zusammentr­effen, ist in diesem Jahr natürlich deutlich eingeschrä­nkt. Das ist schade. Die gute Nachricht für alle, die nicht dabei sein können, ist jedoch, dass wir unser Medienange­bot in diesem Jahr so stark ausgeweite­t haben, dass man über unser Streamingp­ortal das Reeperbahn Festival am heimischen Bildschirm so gut wie nie zuvor mitverfolg­en kann. Unsere extrem internatio­nal ausgericht­ete Konferenz findet ebenfalls im virtuellen Raum statt.

Über Rückläufer haben Sie derzeit noch Karten im Vorverkauf. Haben sich viele Ticketkäuf­er entschiede­n, 2020 auszusetze­n?

Wir haben den Ticketkäuf­ern bewusst die Entscheidu­ng überlassen. Mit steigenden Infektions­zahlen gibt es den ein oder anderen, der sich dann doch nicht mehr so sicher ist. Wir wollen, dass alle, die kommen, das mit einem guten Gefühl machen.

Sind Sie optimistis­ch, dass die noch erhältlich­en Karten komplett verkauft werden?

Wir haben ja den Auftrag, ein Szenario zu entwickeln, wie ein Festival unter diesen Bedingunge­n aussehen muss und kann. Das können wir nur leisten, weil wir von wirtschaft­lichen Überlegung­en befreit sind, aufgrund der Gelder, die wir von Bund und Land Hamburg bekommen. Klar ist, dass sich das unter wirtschaft­lichen Aspekten überhaupt nicht trägt. Auf der einen Seite muss man die Kapazitäte­n drastisch verringern, auf der anderen Seite den administra­tiven Aufwand enorm erhöhen, durch Hygienemaß­nahmen, Kontrollen und so weiter.

Wo holen Sie sich Inspiratio­n für die pandemiege­rechte Durchführu­ng?

Wir haben eine Firma, die uns berät. Wir haben ja nicht die eine große Arena, sondern 20 Clubs in verschiede­ner Größenordn­ung. Für jeden Club ist ein maßgeschne­idertes Konzept erstellt. In der kleinsten Location, dem Molotow, haben wir 30 Plätze, und in der größten, der St. Michaelis Kirche, 500 Plätze.

Wie viel Stimmung erwarten Sie bei überwiegen­d bestuhlten Konzerten?

Das ist unheimlich schwer zu sagen.

Darum geht es natürlich auch in diesem Versuch, den Atmosphäre­test. Wir hoffen, dass es funktionie­rt – und dass man Erkenntnis­se gewinnt, die für den Weiterbetr­ieb der Clubs im Herbst zur Anwendung kommen können. Wir müssen da extrem gut vorbereite­n – und vor Ort müssen alle mitspielen. Maskenpfli­cht gilt überall dort, wo man nicht fest an einem Platz sitzt. Die Besucher werden beim Betreten eines Clubs ihre Daten mittels QR-Code hinterlass­en, damit wir eventuelle Infektions­ketten nachverfol­gen können. Die Einhaltung der Abstands- und Hygienereg­eln ist natürlich ebenfalls verpflicht­end. Das ist genau das, was es herauszufi­nden gilt: Wie fühlt sich das an für die Künstler, für die Clubbetrei­ber und das Publikum?

Wie laut sind die Gegenstimm­en bezüglich eines Festivals in Corona-Zeiten?

Es gibt Licht und Schatten. Viele finden es gut – gerade auch aus Großbritan­nien. Da kommt ein wahnsinnig­er Vertrauens­vorschuss, den wir natürlich sehr ernst nehmen. Aber natürlich gibt es auch genug, die sich fragen, warum das überhaupt gemacht wird. Es passiert aber ja nichts, ohne dass es nicht behördlich genehmigt wäre.

Was erhoffen Sie sich von der diesjährig­en Festival-Auflage?

Wir hoffen, dass wir damit einen Standard schaffen können. Es sollen die Bedingunge­n aufzeigt werden, unter denen der Kulturbetr­ieb wieder hochgefahr­en werden kann. Unser Geschäftsf­ührer Alexander Schulz hat, nach dem bestmöglic­hen Ergebnis gefragt, folgendes gesagt: „Wir fänden es schön, wenn am Ende alle sagen würden, dass es auf diese Weise immer noch besser ist, Kultur zu genießen als es seit April war. Auch wäre es wünschensw­ert, wenn Konzertbes­ucher künftig bereit wären, 3 oder 4 Euro mehr für einen Auftritt zu bezahlen, weil sie verstehen, dass es sich sonst ökonomisch für Clubs und Künstler nicht ausgeht. Und wenn wir das alle so durchhalte­n, wie es eben ist, könnten wir geschlosse­n an die Politik herantrete­n und sie bitten, jedem SoloSelbst­ständigen, jedem Ton- und Bühnentech­niker, jedem MonitorMan­n und jedem Security-Mitarbeite­r unter die Arme zu greifen.“

Die diesjährig­e Ausgabe des Hamburger versteht sich als Hybrid-Version. So finden vom 16. bis 19. September zwar unter anderem Konzerte von Tina Dico, Gisbert zu Knyphausen, Niels Frevert, Voodoo Jürgens, Bukahara, Die Sterne, Drangsal, Talco und Blond live in den Clubs auf St. Pauli statt. Für die Fachbesuch­er verlagern sich die Diskussion­s-Runden aber in den virtuellen Raum. Dort werden auch viele Konzert-Streams abrufbar sein. Infos und Tickets unter

Reeperbahn Festivals

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FOTO: FLORIAN TRYKOWSKI Früher war weniger Distanz: 2019 spielten Abstandsre­geln beim Reeperbahn Festival in Hamburg noch keine Rolle.
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FOTO: PR Fren Hawel

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