Flucht und Verfolgung der Ulmer Juden
Am Tag der jüdischen Kultur begibt sich eine Stadtführung auf Spurensuche
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ULM - Fünf Menschen jüdischen Glaubens waren es noch, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Ulm zurückkehrten. Fünf Einzelschicksale, deren Betrachtung und Lebensgeschichte Bücher füllen würde. Fünf von einstmals über 500.
Bereits seit 20 Jahren wird der europäische Tag der jüdischen Kultur begangen. Das dazugehörende Programm in Ulm musste heuer, am vergangenen Sonntag, aufgrund der Corona-Pandemie etwas schlanker ausfallen; ein Besuch der neuen Synagoge auf dem Weinhof entfiel am vergangenen Sonntag. Stattdessen begaben sich die 20 Teilnehmer, unter der Leitung von drei Mitarbeitern des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg, auf die Spuren von jenen Menschen, die aufgrund ihrer rassenideologischen Klassifizierung gezwungen waren, Deutschland zu verlassen.
Das Ulmer Judentum war vorwiegend im Großbürgertum verwurzelt, erklärt Mareike Wacha. Darunter befanden sich neben Ärzten und Anwälten auch eine Vielzahl von Geschäftsinhabern bekannter Ulmer Läden. In der Hafengasse stand einst das Gebäude, in dem 1879 Anna Essinger geboren wurde. Die moderner Pädagogik gegenüber aufgeschlossene Frau führte vor 1933 zusammen mit ihrer Schwester ein Kinderheim und später eine Schule in Herrlingen. „Zarten, physisch und psychisch leidenden, schwer erziehbaren und zurückgebliebenen Kindern“sollte eine sorgfältige und liebevolle Pflege und Förderung zukommen, wie es in einem Prospekt der Anstalt hieß.
Welch Gegensatz zu der bald darauf als Staatsdoktrin erklärten Vernichtung „lebensunwerten Lebens“! Anna Essinger hatte diese negative Tendenz früh-, ja rechtzeitig erkannt und emigrierte bereits im Jahr der unheilvollen Machtübertragung zusammen mit ihren Schülern nach England. Eine Stele am nach den Kriegszerstörungen wiederaufgebauten Haus erinnert an diese mutige Frau.
Zu den wenigen, die nach dem Ende der NS-Terrorherrschaft wieder in ihre Heimatstadt zurückkehrten, gehörte Resi Weglein. Zutiefst verstörend berührt ihre Erzählung von Verfolgung und Deportation. Weglein wurde ins Konzentrationslager Theresienstadt verfrachtet, in welchem man sie dem Sanitätsdienst zuteilte. Die Schilderungen aus Sicht einer Augenzeugin sind im Buch „Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt“verewigt. Ihrem Sohn Heinz gelang die Flucht nach England, von wo aus er als britischer Soldat gegen Nazideutschland kämpfte. 1946 besuchte er Ulm und fand tatsächlich seine Eltern wieder.
Ebenfalls in Buchform erschienen ist die Geschichte von Otto MethCohn. Er gelangte 1939 mit einem organisierten Kindertransport nach Großbritannien. Seine Mutter hatte dieses Glück nicht: Dorothea Meth-Cohn wurde 1944 in Auschwitz ermordet.
Stolpersteine im Straßenpflaster rund ums Münster erinnern an die Schicksale, deren Schwere und Tragweite heute keiner mehr bemessen kann. Beschämend scheinen in diesem Zusammenhang der Verlauf und das Ergebnis der Flüchtlingskonferenz von Evian im Jahre 1938. Bis auf die Dominikanische Republik zeigten alle Staaten kein Interesse, jüdische Verfolgte aus Deutschland aufzunehmen.
Natürlich wurde dieses Scheitern von der NS-Presse hämisch ausgeschlachtet. Und unweigerlich muss man im historischen Rückblick auch an die heutige weltweite Flüchtlingsproblematik denken. Anna Essinger resümierte Jahre später über ihre Flucht: „Als Hitler 1933 die Macht übernahm, schien mir Deutschland nicht länger ein Ort zu sein, an dem man Kinder in Ehrlichkeit und Freiheit großziehen konnte und ich beschloss, für unsere Schule eine andere Heimat zu finden.“Heute erinnern eine Schule, eine Straße sowie eine nach ihr benannte Straßenbahn an diese weitsichtige Pädagogin.